Ihre Werke reichen von Kupferstichen über Aquarelle bis zu großformatigen Malereien in Öl oder Acrylfarbe. Mit Stichel, Stift oder Pinsel lotete Hélène de Beauvoir (1910–2001) die Möglichkeiten gegenständlicher und ungegenständlicher Kunst aus, bis sie die Trennlinien in den 1960er-Jahren ausdrucksstark auflöste. 1934 bezog die junge Malerin ihr erstes Atelier in Paris und präsentierte schon zwei Jahre später ihre erste Einzelausstellung 1936 in der Galerie Jacques Bonjean. Mitbegründer der Galerie war der spätere Modeschöpfer Christian Dior. Die Galerie Bonjean stellte auch Werke von Pablo Picasso, Georges Braque oder Salvador Dalí aus und ermöglichte Leonor Fini, ähnlich wie Hélène de Beauvoir, ihre erste Einzelausstellung. Pablo Picasso beurteilte anerkennend die Bilder der sechsundzwanzigjährigen Hélène de Beauvoir als »originell«.
Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Ausstellungen in Städten wie Paris, Mailand, Turin, Tokio, Genf, Lausanne oder Brüssel und Ölbilder von Hélène de Beauvoir gelangten in die Uffizien, Florenz, und ins Pariser Centre Pompidou. Zu den letzten großen Schauen zu Lebzeiten zählt ihre Präsentation 1995 an der Universität Aveiro in Portugal, der sie rund achtzig Werke schenkte. Danach geriet die Malerin Hélène de Beauvoir in Vergessenheit. Auch die Veröffentlichung ihrer Lebenserinnerungen 2014 auf Deutsch und eine Ausstellung ihres Werkes 2018 im Musée Würth France Erstein änderten nichts an der Tatsache, dass die Bedeutung ihrer Malerei bislang kaum wahrgenommen wurde und Hélène de Beauvoir im Schatten ihrer Schwester Simone de Beauvoir (1908–1986) blieb – eine der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und Ikone der Frauenbewegung. Ohne Zweifel beeinflusste Simone de Beauvoir Hélènes Leben und Arbeit auf eine sehr tiefgreifende Weise, dennoch steht das Werk der Malerin für sich. In der Ausstellung »Mit anderen Augen sehen« wird die vergessene Künstlerin und ihr vielschichtiges Werk neu bewertet werden.
Für die Opelvillen entwickelt Dr. Beate Kemfert eine Ausstellung, die die gesamte Spannweite von Hélène de Beauvoirs Schaffen mit Gravuren, Aquarellen, Acrylbildern und Ölgemälden würdigt und dabei bislang nicht berücksichtigte Thematiken fokussiert. Fast fünfundzwanzig Jahre nach ihrem Tod werden zum ersten Mal Bilder aus den Jahren von 1930 bis 1990 ausgestellt, die beleuchten, welche Bedeutung die Figur der Frau von Anfang an für die Malerin hatte. Unberücksichtigt blieb auch die Beschäftigung von Hélène de Beauvoir mit dem weiblichen Körper, der Sexualität und der Verletzlichkeit der Frau. Bislang unbekannte Werke erweisen sich nun als Schlüsselwerke und erschließen neue Erkenntnisse über ihre Bedeutung für die Malerei und feministische Kunst des 20. Jahrhunderts. Möglich wird diese neue Sichtung ihres Werkes durch langjährige Recherche und durch vielfältige und umfangreiche Leihgaben aus verschiedenen europäischen Sammlungen.
Hélène de Beauvoir begann in den 1970er-Jahren, sich in ihrer Malerei richtungsweisend feministischen und ökologischen Themen zu widmen, und spiegelt dabei ausdrucksstark ihre emotionalen und intellektuellen Kämpfe wider. Innere Gefühlswelten erkundete die Malerin in ihren Bildern ebenso wie komplexe weibliche Erfahrungen. Ihre eindrucksvollen Statements zur weiblichen Selbstbestimmung lieferte Hélène de Beauvoir in einer Zeit, in der Frauen in der Kunstwelt unterrepräsentiert waren und die Malerei als Männerdomäne galt. Um ihr Geschlecht nicht sofort preiszugeben, signierte Hélène de Beauvoir ihre Werke mit »H de Beauvoir« auf der Vorderseite. Noch 1992 prangerte sie in einem Vortrag die patriarchalen Zustände im Kunstgeschehen an. Ihre Schlussfolgerung, »mit anderen Augen sehen«, mündete im gewählten Ausstellungstitel. Bis ins hohe Alter war Hélène de Beauvoir kreativ und produktiv, 2001 starb sie im Alter von 91 Jahren.
1910 in Paris geboren, begann Hélène de Beauvoir ihre künstlerische Laufbahn mit der oben genannten Ausstellung 1936 am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Im Jahr 1940 wurde Hélène von ihrer Schwester Simone de Beauvoir eingeladen, für einen Monat nach Portugal zu fahren, um ihren Freund Lionel de Roulet, einen Schüler Jean-Paul Sartres zu besuchen. Als währenddessen der Zweite Weltkrieg begann, zog sie es vor, bis zum Kriegsende in Portugal zu bleiben. 1942 heiratete sie dort Lionel de Roulet, der später in den diplomatischen Dienst Frankreichs eintrat, weshalb das Paar mehrere Ortswechsel vollzog: Ab 1945 lebten sie in Wien, ab 1947 in Bukarest, ab 1949 in Marokko und ab 1950 in Mailand. Während ihres Nomadenlebens malte die Künstlerin unter ihrem Mädchennamen Hélène de Beauvoir weiter und beschäftigte sich intensiv mit Abstraktionen des 20. Jahrhunderts. Es entstanden Bilder mit zunehmend aufgesplitterten, kristallinen Formen sowie neuen Bewegungsmustern und Farben. Ihren Ehenamen Madame de Roulet benutzte sie in diesen Jahren nur für gesellschaftliche Verpflichtungen und nach ihrer Rückkehr nach Paris 1957 nannte sie sich ausschließlich Hélène de Beauvoir.
»Beauvoir hat viel Talent. Und es ist Hélène, um die es sich handelt«, hieß es im L‘Est Républicain am 25. Oktober 1967.
Hélène de Beauvoir hatte als Malerin Ende der 1950er-Jahre wieder erfolgreich in Paris Fuß fassen können und stellte u. a. 1960 in der angesehenen Galerie Synthèse ihre Werke aus: »[…] als wir nach Paris zurückkehrten, eroberte ich meine Freiheit zurück«, erinnerte sie sich in einem Interview mit Helen Payne 1976. Diese Phase brach jäh ab, als Lionel de Roulet an den Europarat nach Straßburg gerufen wurde. Wieder folgte Hélène de Beauvoir ihrem Mann, wollte aber nicht in Straßburg leben, sondern auf dem Land, um jeglicher gesellschaftlichen Verpflichtung zu entgehen: »Drei Jahre will ich kein Telefon hören, niemanden sehen und mit niemandem etwas zu tun haben. […] 1964, ich konnte kaum arbeiten. Nun, ich löste das Problem, indem ich einen kleinen Tisch vor dem Fenster aufstellte und gravierte, bis ich im Oktober endlich ein Atelier hatte.« Abgeschieden in Goxwiller, einem kleinen Ort im Elsass, begann Hélène de Beauvoir sich – mittlerweile Mitte fünfzig – in der Malerei neu auszudrücken.
Ihr Refugium in einem ehemaligen Winzerhaus wählte auch Jean-Paul Sartre als Zufluchtsort, als ihm 1964 der Nobelpreis für Literatur verliehen werden sollte und er ihn als Kommunist ablehnte, um sich von keiner bürgerlichen Institution auszeichnen und vereinnahmen zu lassen. Seine Ablehnung des Preises löste einen Skandal aus und der Philosoph zog sich, um der Presse zu entgehen, in das Haus von Hélène de Beauvoir in Goxwiller im Elsass zurück. Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir standen Hélène weiterhin sehr nahe, besuchten regelmäßig ihre Ausstellungen und ihr Atelier.
»Das Werk, das Hélène de Beauvoir heute ausstellt, ist das Ergebnis einer langen Suche.« Jean-Paul Sartre, 1975
Im Dezember 1963 starb die Mutter von Hélène und Simone de Beauvoir. Simone verarbeitete den gemeinsamen Schmerz und die Trauer in ihrem Buch Ein sanfter Tod [Une Mort très douce]. Die im Herbst 1964 erschienene Publikation widmete sie ihrer Schwester Hélène. Diese traurige Lebensphase schweißte die zwei Frauen, die die Enge der traditionellen bürgerlichen Familie hinter sich gelassen hatten, noch enger zusammen.
In ihrem Memoirenband Alles in allem [Tout compte fait] erinnerte sich Simone de Beauvoir 1972 an ihren gemeinsamen Wunsch: »Seit langem schon wünschten wir beide, meine Schwester und ich, dass sie einmal einen neuen Text von mir mit Bildbeigaben von ihrer Hand versähe, doch bislang hatte ich nie einen Text gefunden, der kurz genug gewesen wäre. Die Titelerzählung des Bandes Eine gebrochene Frau [La femme rompue] hatte den erforderlichen geringen Umfang und inspirierte sie zu sehr schönen Illustrationen.« Hélène de Beauvoir, Kupferstiche aus Eine gebrochene Frau [La femme rompue], 1967 © Ute Achhammer, APP
1967 erschien dann im einflussreichen französischen Verlag Gallimard Eine gebrochene Frau [La femme rompue] von Simone de Beauvoirs mit sechzehn Kupferstichen ihrer Schwester Hélène. Ein Exemplar der äußerst seltenen einhundertdreiundvierzig Bücher der Erstausgabe wird in den Opelvillen zu sehen sein sowie Hefte der Zeitschrift Elle, die im Vorabdruck Auszüge aus dem Buch und einige Abbildungen der Stiche veröffentlichte.
Zunehmend befreite Hélène de Beauvoir sich von der Abstraktion und kehrte in der Reduktion der Linie und im Schwarz-Weiß zur Figuration zurück: Mit nackten weiblichen Körpern und vereinfachten Formen werden nun kritisch vorherrschende Rollenbilder thematisiert und Lust, Liebe, Enttäuschung, Einsamkeit, Krankheit und Tod zu Bildinhalten.
Als Hélène de Beauvoir fern der Metropole im Elsass malte, vollzog sich 1968 eine große Stiländerung. Die seitdem entstandenen Arbeiten bilden einen Schwerpunkt der Ausstellung.
Mit neuer Eindringlichkeit schuf Hélène de Beauvoir 1968/69 ihren Werkzyklus Der schöne Mai [Le Joli Moi de Mai] mit dreißig Bildern, in denen sie an den Kampf der Studenten, an Mut und Unterdrückung im Mai 1968 erinnern wollte: »Diese Bilder ermutigten mich, meine Vorstellungskraft zu entwickeln.« 1968 hatte Hélène de Beauvoir zu sich und neuen Bildthemen gefunden. Sie begann, in der Frauenbewegung aktiv zu werden und war 1978 Mitbegründerin des Vereins SOS Femmes Solidarité – Centre Flora Tristan, einer Anlaufstelle für weibliche Gewaltopfer in Straßburg, dem sie fünf Jahre bis 1983 als Präsidentin vorstand.
»Wenn ich nicht gemalt hätte, wäre ich vielleicht in der Psychiatrie gelandet. […] Die Malerei gab mir ein Projekt, eine Hoffnung […].« Hélène de Beauvoir
Kunst bedeutete für Hélène de Beauvoir eindeutig einen Akt der Befreiung. Sie wurde sich zunehmend bewusst, dass Künstlerinnen Dinge zu sagen haben, die Männer in ihren Bildern noch nicht ausgedrückt haben. Es entstanden großformatige Ölgemälde, in denen sie die herrschenden Rollenbilder offenlegte und in klar verständlicher Bildsprache auf die Lage der Frau aufmerksam machte.
Ihre Bilder Die Hexenjagt geht weiter und Frauen leiden, Männer urteilen [Les femmes souffrent. Les hommes jugent] aus dem Jahr 1977 sind kraftvolle Statements gegen die Gesellschaft und für den Kampf nach weiblicher Selbstbestimmung. Ebenso kritisch reflektierte die Künstlerin Transformationen der Natur in Form von Umweltschäden, verursacht durch den Menschen. Ihre Mischung an feministischen und ökologischen Themen präsentierte sie 1978 unter dem Ausstellungstitel Blicke einer Frau auf die Welt des Mannes [Regard d'une femme sur le monde des hommes].
Besonders in ihrem Spätwerk bestimmt der Kampf für Frauenrechte die Motive. Während des Bosnienkriegs – Hélène de Beauvoir war 82 Jahre alt – suchte sie 1992 in ihrer Malerei nach Ausdrucksformen für die sexuelle Gewalt durch Massenvergewaltigungen.
Die Ausstellung wird gefördert von der Hessischen Kulturstiftung, der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen sowie der Sparkassen-Stiftung Groß-Gerau.
Öffnungszeiten:
Dienstag: 10:00 - 18:00 Uhr
Mittwoch: 10:00 - 20:00 Uhr
Donnerstag - Sonntag: 10:00 - 18:00 Uhr
Montag: geschlossen
Weitere Informationen direkt unter: opelvillen.de