Vom 14. September bis zum 26. Oktober 2025 zeigen die Künstler_innen Julie Batteux, Yaël Kempf, David Reiber Otálora und Simon Wienk-Borgert aktuelle Werke, die während ihrer einjährigen Stipendienzeit (2024/2025) am Residenzort Münster entstanden sind. Kuratiert wird die Ausstellung von Lara Bader und Marlene Kurz, die von April bis September 2025 Kuratorinnen des Programms sind. Jedes Jahr bringt die Residence NRW+ eine jurierte, vielfältige Gruppe von Künstler_innen und Kurator_innen zusammen – mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, Herangehensweisen und inhaltlichen Bezügen.
Der Ausstellungstitel Layers in Complexity ist eine Einladung der beiden Kuratorinnen, die ausgestellten Arbeiten unter dem Begriff Layer [dt. Schicht] zu entdecken. Eine Schichtung lebt aus der Pluralität der Einzelelemente und ihren Relationen zueinander, was nicht nur innerhalb der einzelnen Werke zutage tritt, sondern auch in der Beschaffenheit des Stipendienprogramms. Die Künstler_innen teilen zwar den Wohnraum, doch ihre künstlerische Arbeit folgt eigenen Wegen und keinem gemeinsamen Thema. Inspiriert ist Layers in Complexity von der Metapher der Zwiebelschichten der Philosophin Donna Haraway: Eine Zwiebel hat keinen festen Kern, sondern besteht ausschließlich aus ihren Schichten. So veranschaulicht Haraway, dass Wissen und Interpretation immer kontextabhängig, vielschichtig und nie endgültig sind. Jegliche Erkenntnis bleibt damit begrenzt, situativ und im Wandel – Haraways Bild macht Mehrdimensionalität sichtbar. Diese Vorstellung spiegelt auch die Ausgangsidee der Residency wider, in der verschiedene Positionen parallel existieren und der offene, situative Austausch im Vordergrund steht.
Das Nachdenken über Schichtungen kann die Entstehungsprozesse und thematischen Überschneidungen, aber auch Differenzen und Leerstellen der Arbeiten erfahrbar machen. In den entstandenen Werken, die von figurativer Malerei, Fotografien, Installationen, Skulpturen, Collagen bis hin zu Video reichen, treten Überlagerungen als konzeptuelle, materielle, zeitliche und inhaltliche Strategien zutage. Die künstlerischen Ansätze reichen dabei von materiellen Layern – etwa Plakatlagen in den skulpturalen Arbeiten von Yaël Kempf, lasierend aufgetragenen Farbschichten in der Malerei von Julie Batteux sowie Papiercollagen von David Reiber Otálora – bis hin zu Schichtungen unterschiedlicher Logiken wie in den Werken von Simon Wienk-Borgert. Auch motivisch arbeiten die Künstler_innen mit vielfältigen metaphorischen Ebenen und Bezügen. Die gezeigten Werke eröffnen sowohl in sich als auch im Dialog miteinander komplexe kunsthistorische Referenzen, persönliche Erinnerungen und Verbindungen zwischen Material, Gedankenräumen und Zeitebenen.
Bezugnehmend auf die Malereien von Julie Batteux verweist der Begriff Layers auf ihre malerische Technik: Ihre Werke entstehen durch das lasierende Auftragen von Farbschichten, die sich mit der markanten Form der Malträger und den dichten Bildinhalten vielschichtig verbinden. So entfaltet sich eine komplexe Bildstruktur, die sich erst bei genauer Betrachtung erschließt – nicht nur innerhalb der einzelnen Arbeiten, sondern auch in der Serie Schattenbock(sen) und in der Konfrontation mit den Besucher_innen, aber auch mit den anderen Werken im Raum. Ausgangspunkt vieler ihrer Serien ist der nackte weibliche Körper, der in der Serie Schattenbock(sen), wie in anderen, stets ihr eigener ist. Sie zeigt ihren Körper in aufreizenden Posen aus teils gnadenlos starken Unteransichten, aber auch frontal den Betrachter_innen gegenüber auf den Knien hockend, und blickt diese mal herausfordernd, mal taxierend an. Vor den Bildern stehend nehmen wir die Perspektive der Kamera ein, und so ist es stets der selbstreflexive, aber auch selbstvergessene Blick der Protagonistin in Konfrontation mit der Selfiekamera, den wir gleichsam wahrnehmen. Körper bilder, das Verhältnis zur eigenen Sexualität und Lustobjekte werden hier in Szene gesetzt. Dabei wird der autobiografische Angstgegenstand des Turnbocks aus dem Schulunterricht teilweise verkehrt, indem er sich beinahe wie im Liebesakt mit dem Körper verschränkt, zum Malträger für diesen wird oder aber mit ihm in Konflikt tritt. Innerhalb der Serie entfaltet sich die deutsche Redewendung „Bock haben“, ein Synonym für „Lust haben“ oder „Verlangen“, auf vielschichtige Weise und wird erweitert durch die Konnotation des sich wehrenden, aufmüpfigen tierischen Bocks. Durch die Inszenierung von Verletzlichkeit, Wut und Widerstandskraft einerseits, aber auch Lust, Selbstbewusstsein und Selbstermächtigung andererseits, entwickelt Batteux in der Serie eine feinfühlige, autobiografisch geprägte Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper, seinen Zuschreibungen und Bewertungen.
Im Foyer des Kunstvereins treffen die Besucher_innen auf die Installation Problem of God von Yaël Kempf. Die Skulpturen bestehen aus dicken Schichten von auf der Straße gefundenen ehemaligen Plakatwänden, deren abgefräste, rindenartige Oberflächen Fragmente vergangener Werbebotschaften freilegen. Diese Überbleibsel aus Konsum und Stadtbild, losgelöst von ihrem ursprünglichen Zweck, werden zu rohen Sedimenten einer urbanen Gegenwart. Archaisch im Raum stehend, erinnern die Formen an spitz zugeschlagene Feuerstein-Werkzeuge der Steinzeit. Zwischen den Schichten steckt ein iPhone, das ein Video abspielt, welches auf den Film im Obergeschoss verweist, in dem das angedeutete Narrativ weitergeführt wird. Dort lädt eine Sitzbank aus demselben geschichteten Material zum Verweilen ein. Aus ihr wachsen Pilze, wie an einem gefällten Baum. Sie bildet den Ausgangspunkt für den Kurzfilm, in dem mythische Bilder auf eine spröde, postindustrielle Stadtlandschaft treffen. Gemeinsam mit einer Gruppe von Jugendlichen der Glückauf-Schule Essen entstand auf Grundlage eines improvisierten Szenenskripts eine Arbeit, die ihre Lebenswelten und Fantasien in poetische Fiktionen verwandelt. Gedreht wurde rund um die monumentale Skulptur Bramme von Richard Serra, die auf einer ehemaligen Bergbauhalde im Essener Norden steht. Ein Relikt des Steinkohlebergbaus, das zur Kulisse ihrer Erzählung wird. In weiten Bildern rennen die Jugendlichen über riesige Rohrleitungen, die Kamerabewegungen erinnern an die freie Dynamik von offenen Videospielwelten. In anderen Szenen spielen sie Fußball, gefilmt aus der Sicht eines Spielenden, sodass die Grenze zwischen digitaler Ästhetik und realer Präsenz oszilliert. Es entsteht ein Gefühl von Sommer, Jugend, Freiheit und Trägheit, durchzogen von Gedanken an die Zukunft. Die Szenen verschmelzen zu einem Zustand aus Leichtigkeit und Ungewissheit. Gewalt, Kriminalität und unausgesprochene Wünsche blitzen auf – die Jugendlichen lassen sich treiben zwischen Vergangenheit, Gegenwart und neuen Möglichkeiten.
David Reiber Otálora beschäftigt sich in seiner künstlerischen Arbeit mit den Spuren, die der Kolonialismus bis heute hinterlässt. Sein Interesse gilt dabei vor allem den Tropen, ihrer exotistischen Darstellung und Ausbeutung, aber auch der Frage, wie gängige westliche Sichtweisen durch neue, alternative Perspektiven hinterfragt und erweitert werden können. Grüne, überdimensionierte Pflanzenblätter aus Metall, die an der Wand hängen, spielen mit der westlichen Tradition, tropische Pflanzen und ihr Motiv als reines Dekoelement einzusetzen. Der Blick der Betrachter_innen wird auf die Form, das Material und die Größe des Blatts gelenkt. Doch erst das Wissen, dass es sich hier um die vergrößerte Darstellung echter Vorbilder aus der Natur handelt, die Schäden durch Blattschneiderameisen zeigen, deren Kolonien vor allem im Regenwald Südamerikas zu finden sind, öffnet eine weitere Dimension der Arbeit. Reiber Otálora geht es um die Produktionsästhetik der Natur, die sich in den Schneidespuren der Ameisen an den Blättern zeigt. Der Entscheidungsprozess dieser Insekten ähnelt dem künstlerischen Vorgehen Reiber Otáloras, insbesondere bei seinen Collagen, die im ersten Obergeschoss der Ausstellung zu sehen sind. Hier verarbeitet er Kopien wissenschaftlicher Textausschnitte und schematischer Zeichnungen wie aus dem Aufsatz Plant chimeras: The good, the bad, and the ‘Bizzaria’ (Margaret H. Frank, Daniel H. Chitwood, 2016) sowie Fotografien aus Internetforen, die sich mit der Technik der Pflanzenveredelung durch das sogenannte Pfropfen beschäftigen – dem Verbinden zweier Pflanzen, damit sie gemeinsam weiterwachsen. Diese Materialien näht Reiber Otálora zu großformatigen Collagen zusammen. Dabei entstehen, ähnlich wie bei der botanischen Technik selbst, vielschichtige Bildflächen: Blattelemente werden – wie von den Ameisen – herausgelöst, überlagern sich, geben andere Schichten frei und fügen sich zu neuen Formen zusammen, die unendlich erweitert werden können.
Die fotografische Serie Emotional Budgets von Simon Wienk-Borgert fängt Innenräume aus erhöhter Perspektive ein, ähnlich einer Überwachungskamera. Diesen beobachtenden Blick richtet er auf sein eigenes Atelier in Düsseldorf, einen multifunktionalen Ort: ein ehemaliger Gemüseladen, der sich zu einem von Künstler_innen betriebenen Ausstellungsraum, Atelier, aber auch Wohnraum entwickelt hat. Dies kann auch als Referenz zu Residence NRW+ gelesen werden, wo Arbeits- und Lebensraum ineinander übergehen. Die invertierten Schwarz-Weiß-Fotografien kehren alltägliche Räume um: Hell wird zu Dunkel, privat zu öffentlich, Ladenarchitektur wird zum Ausstellungsdisplay. So werden architektonische, soziale und emotionale Grenzen sichtbar und in einem überlagerten Raum zwischen Produktion, Ausstellung und Alltag neu verhandelt. Dies zeigt sich auch in der Platzierung im Ausstellungsraum, wo die Werke bis in das Büro des Kunstvereins hineinreichen – einen Übergangs- und Durchgangsort.
Mit Sockeln und Fensterabdeckungen aus dem Bestand des Kunstvereins sowie weiterem Material entwickelt Wienk-Bogert mit Untitled Constellation eine Installation, deren Elemente erst vor Ort arrangiert werden. Es ist ein Zusammensuchen, Zerlegen und Verdichten eigener und fremder Materialien, die vorübergehend zusammengebracht werden. Die Anordnung folgt weder einer hierarchischen Logik noch einem klaren Narrativ, sondern schafft eine visuelle, netzartige Struktur. Bücher ganz unterschiedlicher Genres – wie eine Bedienungsanleitung oder eine Sammlung botanischer Illustrationen – treffen auf Publikationen wie Ein Mann der schläft (Georges Perec, 1991) oder Pamphlet Architecture 28: Augmented Landscapes (2006), die auf Beschaffenheit, Geschichte und Instabilität von Räumen verweisen. Untitled Constellation vereint die Objekte zu einem Spannungsfeld, das mal vertraute, mal irritierende Kombinationen und mal assoziative, mal unklare Zusammenhänge sowie Referenzen entstehen lässt.
Layers in Complexity – Between Traces and Sediments
In der Auseinandersetzung mit dem Thema Schichten stellte sich auch die Frage nach Überlagerungen und Spuren innerhalb des langjährigen Stipendienprogramms Residence NRW+. Zunächst knapp 20 Jahre als deutsch-niederländisches Kooperationsprojekt im Schloss Ringenberg angesiedelt, zog das Programm 2018 nach Münster. 2020/2021 startete dort das neu ausgerichtete Stipendienprogramm – erstmals institutionell angedockt an die Kunsthalle Münster und mit der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia als neuem internationalem Förderpartner. Neben dem ein oder anderen Mobiliar des alten Residenzprogramms sind vor allem Bücher mit an den neuen Ort gezogen – stille Zeugen der künstlerischen und kuratorischen Praxis, Reflexion und Forschung.
Die extra eingesendeten Publikationen ehemaliger Stipendiat_innen bilden nun eine eigene Schicht innerhalb des kuratorischen Konzepts und verweisen auf die Kontinuität und Vielschichtigkeit des Programms. Als materielle und inhaltliche Spuren dokumentieren sie nicht nur individuelle künstlerische Entwicklungen, sondern auch die kollektive Geschichte des Residenzprogramms. Die Auswahl umfasst Publikationen aus verschiedenen Disziplinen – von künstlerischen Monografien über kuratorische Essays bis hin zu experimentellen Formaten – und eröffnet ein vielstimmiges Archiv. Die Bücher sind als eigene Ausstellung in die räumliche und thematische Struktur der diesjährigen Stipendiat_innen-Ausstellung eingebettet. Sie stehen für die Verbindung von Produktion und Reflexion, für die Layer zwischen Idee, Umsetzung und Erinnerung. So wird die Ausstellung zu einem Ort, an dem sich Vergangenheit und Gegenwart überlagern und neue Perspektiven auf das Programm und seine Wirkung entstehen.
Das Projekt findet statt im Rahmen von Residence NRW⁺, ein Stipendienprogramm für Künstler_innen und Kurator_innen, das mit wechselnden Museen, Kunsthallen und Kunstvereinen in ganz NRW kooperiert.
Residence NRW⁺ ist ein Programm der Kunsthalle Münster, eine Einrichtung der Stadt Münster, residencenrw.de
KURZBIOGRAFIEN
Julie Batteux (geb. 1996 in Aachen) studierte von 2014 bis 2022 an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg, u. a. bei Prof. Susanne Kühn und Prof. Jürgen Teller. Ihr Projekt Spiegelschatten wurde mit dem Absolvent_innenpreis ausgezeichnet. Julie Batteux beschäftigt sich in ihren Malereien vorrangig mit den ästhetischen Leitkulturen sozialer Netzwerke in Bezug auf Körperbilder und deren Auswirkungen auf die Psyche der Nutzerin. Sie nahm an verschiedenen Gruppenausstellungen teil, u. a. im Kunstpavillon München und im Kunstmuseum Erlangen. 2023 zeigte sie ihre erste Einzelausstellung Leibeigen im Kunstverein Kohlenhof, darauf folgte 2025 die Ausstellung Safer Space im Kunstmuseum Heidenheim. Ihre Arbeit wurde u. a. mit dem Förderpreis des Bezirks Mittelfranken, dem Bayrischen Kunstförderpreis sowie dem Bayerischen Atelierpreis ausgezeichnet.
Yaël Kempf (geb. in Genf) ist eine französische Künstlerin. Sie schloss 2020 ihr Studium an der Kunstakademie Düsseldorf ab, wo sie lebt und arbeitet. Ihre filmischen und skulpturalen Arbeiten verbinden poetische Strategien mit politischer Recherche und kreisen um Fragen von Migration, Ökologie und Identität. 2022 vertiefte sie diese im Rahmen einer Residenz der Kunststiftung NRW in Tel Aviv. 2024 zeigte sie die Einzelausstellung Annunciation im Kunsthaus Essen und wurde vom Programm Visuelle Kunst Junge Szene für La Faim du Tigre gefördert. 2023 erhielt sie das Atelierstipendium der Deutschen Bank. Ihre Arbeiten wurden kürzlich u. a. im Museum Ludwig (Köln), bei Kai 10 | Arthena Foundation (Düsseldorf), im Weltkunstzimmer (Düsseldorf) und in der Villa du Parc (Annemasse) gezeigt.
David Reiber Otálora (geb. 1992 in Münster) hat sein Studium an der HfBK Hamburg 2020 abgeschlossen, er lebt und arbeitet in Berlin. In seiner künstlerischen Praxis befasst er sich mit den vielfältigen Nachwirkungen des Kolonialismus, insbesondere in Bezug auf die Repräsentation der Tropen und ihrer anhaltenden Zerstörung. Seine atmosphärisch dichten und spekulativen Arbeiten widersetzen sich der epistemischen Gewalt westlicher Wirklichkeitsansprüche. David Reiber Otálora hatte 2019 seine erste Einzelausstellung Tropical Frenzy im Kunstverein Gießen und nahm an verschiedenen Gruppenausstellungen teil, zuletzt an der Britzenale 5 in Berlin sowie 2024 im Dortmunder Kunstverein und im Hamburger Kunstverein, in der Klosterruine Berlin sowie bei Urbane Künste Ruhr.
Simon Wienk-Borgert (geb. 1988 in Baden-Baden) hat sein Studium an der Kunstakademie Düsseldorf 2023 abgeschlossen, er lebt und arbeitet in Düsseldorf. In seiner künstlerischen Praxis entwickelt Simon Wienk-Borgert durch kontinuierliches Sammeln, Verdichten und Zerlegen von Eigen- und Fremdmaterial ein veränderliches Archiv zeitbasierter Werkfragmente und Invarianten. Seit 2018 untersucht Simon Wienk-Borgert innerhalb von Ausstellungsformaten die eigene Involviertheit und Parameter dessen, was Kunst für ihn sein kann. Zuletzt veröffentlichte er mit visualsnow (2023) die erste Ausgabe im eigenen Verlag SOLBATEMIM (zusammen mit Johanna Terhechte und Ludwig Kuffer). Seit 2024 ist Simon Wienk-Borgert Teil des artistrun space Linienstrasse in Düsseldorf.
Eröffnung: Samstag, 13. September 2025, 19:00 - 23:00 Uhr