In nur einem Jahrzehnt – den sogenannten Goldenen Zwanzigern – erschafft die Künstlerin Marta AstfalckVietz (1901–1994) in Berlin ein schillerndes Werk aus Selbstinszenierungen, Akt- und Tanzfotografien sowie experimentellen Bildern. Sie agiert zugleich vor und hinter der Kamera – als Fotografin, Regisseurin und Modell. Humorvoll thematisiert Astfalck-Vietz Geschlechterrollen in der Weimarer Republik und nutzt die Kamera, um selbstbewusst vielfältige Möglichkeiten weiblicher Identität zu zeigen. Mit Masken, theatralischen Posen und grotesken Elementen entwickelt sie einen Stil, der persönliche Introspektion mit gesellschaftspolitischen Themen verbindet.
Im Jahr des 50-jährigen Jubiläums der Berlinischen Galerie widmet das Museum Marta Astfalck-Vietz eine umfangreiche Einzelausstellung mit über 140 Werken. Mit neuesten Erkenntnissen über die Publikationspraxis der Künstlerin wie auch feministischen Perspektiven präsentieren Ausstellung und Katalog ein bislang weitgehend übersehenes Werk und verorten es kunsthistorisch. In sechs Kapiteln werden die Arbeiten thematisch vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen die avantgardistischen Fotografien und erstmalig auch Pflanzenaquarelle, die Astfalck-Vietz ab Mitte der 1930er Jahre verstärkt und bis zu ihrem Lebensende fortlaufend malt.
Ausgewählte Aufnahmen von Zeitgenoss*innen wie Marianne Breslauer (1909–2001), Lotte Jacobi (1896–1990) sowie Cami (1892–1975) und Sasha Stone (1895–1940) zeigen, in welchen ästhetischen und thematischen Zusammenhängen sich AstfalckVietz bewegte. Die Künstler*innen Andreas Langfeld (*1984) und Sophie Thun (*1985) kommentieren mit einer Videoarbeit das Wirken dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit aus heutiger Perspektive.
Stoffe, Spitze, Rollenbilder
Das Werk von Astfalck-Vietz hat viele Facetten. Im Dialog mit der Kamera inszeniert sie sich immer wieder selbst, dabei setzt sie Stoffe als Kostüm oder Gestaltungselement in ihren Bildkompositionen ein. Mit floraler Spitze, glänzendem Brokat und dramatischer Beleuchtung erschafft die Künstlerin geheimnisvolle Erscheinungen. In sorgfältig arrangierten Fotografien lotet sie das Spannungsverhältnis zwischen Verhüllung und Offenbarung, Maskerade und Identität aus. Spielerisch stellt sie Versionen des Frau-Seins dar: So inszeniert sie sich als CharlestonTänzerin oder mit kurzen Haaren, im glamourös glitzernden Kleid oder mit Perücke.
In Szene gesetzt
Neben introspektiven Fotografien arrangiert die Künstlerin szenische Bildgeschichten, für die sie mit verschiedenen Freund*innen kooperiert – vertieft in emanzipatorische Lektüre, im Wartezimmer oder in Vorbereitung auf die Abendgesellschaft. AstfalckVietz legt damit humorvoll und selbstironisch traditionelle weibliche Rollenbilder und zeitgenössische Stereotype offen. Die Bildserien und Einzelbilder geben Einblick in gesellschaftliche Phänomene, aber auch in die populäre Kultur der 1920er Jahre. Die Aufnahmen veröffentlichte sie in damals beliebten Zeitschriften und Fachmagazinen wie „Die Aufklärung“ oder in der Jahresschau „Das Deutsche Lichtbild“.
Gemeinsame Urheber*innenschaft „Combi-Phot.“
Besonders prägend im Werk und Leben der Künstlerin ist die fast lebenslange Freundschaft mit Heinz Hajek-Halke (1898–1983). Die beiden lernen sich 1922 an der Berliner Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums kennen. Gemeinsam arbeiten sie bei der Berliner Agentur Presse-Photo, schaffen aber auch davon unabhängig innovative Fotografien. Die Bilder, an deren Idee, Konzeption sowie Realisierung beide gleichberechtigt arbeiten, kennzeichnen sie gelegentlich mit dem Stempel „Combi-Phot.“ Inhaltlich verhandeln sie gesellschaftliche Phänomene wie Einsamkeit, Alkoholismus oder das Unheimliche in der Populärkultur.
Körper in Bewegung und in Pose
Als Berufsfotografin nimmt Marta Astfalck-Vietz auch Aufträge in der Tanzfotografie an. Bühnenaufführungen fotografiert sie selten, ihr Fokus liegt auf der Einzelaufnahme des Körpers in Bewegung. Zu dieser Zeit begeistern neue moderne Aufführungen der Avantgarde die Menschen in der Hauptstadt. Tänzerinnen wie Mary Wigman (1886–1973) entwickeln die Kunstform weiter und lehren selbst in Tanzschulen den Ausdruckstanz. Impulse bieten auch internationale Bühnenshows wie die der Tänzerin und Sängerin Josephine Baker (1906–1975). Für die mediale Verbreitung entstehen Aufnahmen für Anzeigen, Einladungs- und Visitenkarten oder zur Dokumentation der Aufführungen.
Analog zu den Tanzfotografien inszeniert Astfalck-Vietz Hände in ausdrucksstarken Haltungen. Sie bilden eine eigene Werkgruppe. Mal mit Pelz und Schmuck, mal expressiv hält die Künstlerin die Posen fest.
Pflanzenaquarelle
So wie Astfalck-Vietz Hände in verschiedenen Haltungen und Bewegungen darstellt, so stehen seit Mitte der 1930er Jahre auch Pflanzen „Modell“ für ihre zahlreichen Aquarelle. In ihrer Pflanzenmalerei widmet sie sich der naturalistischen Darstellung der Flora und ist auch von deren fast tänzerischen Anmutung fasziniert. Die Motive werden über die Zeit luftiger, auch ornamental oder skizzenhaft gestaltet. Sie zeigen u. a. Dahlien, Lilien, Rosen sowie Orchideen oder Mohn. Seit 1936 nummeriert Astfalck-Vietz die Werke; bis zu ihrem Lebensende entstehen über 6.000 Aquarelle. Das botanische Interesse von Astfalck-Vietz zeigt sich beispielsweise auch im Kontakt mit dem Staudengärtner Karl Foerster (1874– 1970). Einzelne Züchtungen sind sogar nach der Künstlerin benannt.
Über die Künstlerin
1901 in Neudamm (heute Dębno, Polen) geboren, zieht Marta Astfalck-Vietz 1912 mit ihrer Familie nach Berlin. Das Interesse an der Pflanzenmalerei und an Textilien aller Art bildet sich schon früh. Mit 17 Jahren beginnt sie eine Ausbildung an der Höheren Fachschule für Textil- und Bekleidungsindustrie. Von 1920 bis 1924 studiert sie anschließend an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums Berlin die Fächer Mode, Buchillustration und Gebrauchsgrafik.
Ihre fotografischen Kenntnisse erwirbt Astfalck-Vietz von 1925 bis 1926 im Atelier des Fotografen Lutz Kloss (Lebensdaten unbekannt). Mit 26 Jahren, am 1. Oktober 1927, eröffnet sie ihr erstes Atelier in der Markgraf-Albrecht-Straße 10 im damaligen Bezirk Berlin-Wilmersdorf.
Die nun selbstständige Fotografin lernt 1928 den Architekten Hellmuth Astfalck kennen, den sie 1929 heiratet. Gemeinsam gründen sie das Atelier für „Photographie, Propaganda und Kunstgewerbe“. In den 1930er Jahren erschweren Inflation und Wirtschaftskrise die Selbständigkeit. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 ist eine Zäsur: Um sich staatlicher Einflussnahme und der Regulierung der Berufsfotografie zu entziehen, widmet sich das Paar verstärkt der Werbe- und Gebrauchsgrafik sowie der Innenarchitektur. In dieser Zeit gibt Astfalck-Vietz Zeichen- und Privatunterricht für jüdische Kinder und Jugendliche, denen der Be-such öffentlicher Schulen infolge der nationalsozialistischen Politik verboten ist.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 sucht Marta Astfalck-Vietz einen Neuanfang. Ein Anknüpfen an die fotografische Praxis der 1920er ist nicht mehr möglich. Sie gibt Zeichenunterricht, arbeitet sozialpädagogisch und intensiviert die Pflanzenmalerei. Nach über 50 Jahren in Berlin, zieht sie 1970 mit Hellmuth Astfalck nach Nienhagen bei Celle, wo sie weiterhin künstlerischen Unterricht gibt.
1994 stirbt Marta Astfalck-Vietz im Alter von 92 Jahren.
Geschichte des Nachlasses
Das Berliner Atelier von Astfalck-Vietz in der Treuchtlinger Straße 10 wird im November 1943 bei einem Bombenangriff zerstört. Durch Glück überdauern viele Arbeiten den Zweiten Weltkrieg in der Obhut ihres Vaters, dem Kunstverleger Reinhold Vietz (1873–1958). Ihm hat sie einige ihrer Fotografien in den 1920er Jahren als Geschenke übergeben. Nach 1945 gibt er diese schweren Herzens an seine Tochter zurück.
Lange Zeit bleibt das fotografische Werk von Marta Astfalck-Vietz unentdeckt. Erst 1989 mit der Ausstellung „Photographie als Photographie“ in der Berlinischen Galerie, die zwei mit „Marta Vietz“ gekennzeichnete Fotografien präsentiert, kann eine Verbindung zu der zu diesem Zeitpunkt in Niedersachsen lebenden Künstlerin hergestellt werden.
Der heute vorhandene Nachlass kommt in mehreren Etappen in die Berlinische Galerie. 1990 schenkt die Künstlerin eine große Anzahl an Fotografien dem Museum, nach ihrem Tod 1994 wird dieses Konvolut ergänzt. 2022/2023 wird der Nachlass im Rahmen des „Förderprogramms zur Digitalisierung von Kulturgut des Landes Berlin“ digitalisiert und in Teilen restauriert.
Die Ausstellung wird ermöglicht durch den Förderverein der Berlinischen Galerie e.V.
Katalog zur Ausstellung Im Hirmer Verlag ist ein zweisprachiger Katalog (Deutsch/Englisch) erschienen. 256 Seiten, ca. 100 Abbildungen Preis Museumsausgabe: 34,80 € ISBN: 978-3-940208-86-6 Preis Buchhandelsausgabe: 49,90 € ISBN: 978-3-7774-4534-2
Alte Jakobstraße 124-128
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