„embrace“ in der historischen Halle im Hamburger Bahnhof ist die bislang größte raumgreifende, skulpturale Szenerie von Klára Hosnedlová: Neun Meter hohe Flachs-Tapisserien mit steinernen Reliefs hängen auf den mit Betonplatten ausgelegten Boden. Lautsprechertürme aus Berliner Clubs führen die Besucher*innen mit einer Klangkomposition immer tiefer in Hosnedlovás mythische Landschaft. Während sie sich den Weg vorbei an schlammigen Pfützen bahnen, werden auf den fossilienhaften Reliefs detaillierte Stickereien flüchtiger Momente erkennbar. „embrace“ verbindet Organisches und Anorganisches, Beständigkeit und Verfall, Handarbeit und industrielle Produktion. Die Ausstellung markiert den Auftakt der jährlichen CHANEL Commission im Hamburger Bahnhof.

Klára Hosnedlová (geb. 1990 in Uherské Hradiště, Tschechien; lebt in Berlin) arbeitet mit Materialien, die tief in den Regionen des heutigen Tschechiens und der Slowakei (ehemals Böhmen und Mähren) verwurzelt sind. Die Verbindung jahrhundertealter Handwerkstraditionen, regionaler Folklore und brutalistischer Architektur vereint historische, politische und kulturelle Erzählungen in raumgreifenden Installationen. Hosnedlová verwandelt die Industriearchitektur der historischen Halle des Hamburger Bahnhof in eine mythische Landschaft und eröffnet einen Raum, in dem persönliche Kindheitserinnerungen eine universelle Sprache der Vorstellungskraft schaffen. „embrace“ besteht aus Glas, Beton, Flachs, Hanf, Faden, Sand, Metall und Klang. Die Materialien verbinden grundlegende Gegensätze wie Organisches und Anorganisches, Beständigkeit und Verfall, Handarbeit und industrielle Produktion. Die Installation zeigt, wie sich Landschaften, Materialien und kulturelle Praktiken im Lauf der Zeit unablässig verändern und neu formen.

Die gedämpften Farben, rauen Texturen und verzweigten Ausläufer der sechs Tapisserien erinnern an Tierhäute oder Wesen aus einer anderen Welt. Das Gewebe aus Flachs und Hanf wurde von Hand gewebt und mit Pflanzenfarben gefärbt. Die jahrhundertealte Tradition des Anbaus und der Verarbeitung von Flachs und Hanf in der tschechischen Region Böhmen wurde im Zuge der Industrialisierung mit Spinnmaschinen und Textilfabriken fortgeführt, endete aber nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Einfuhr leistungsfähigerer Exportgewächse oft mit kolonialem Hintergrund, wie beispielsweise Baumwolle. Die Künstlerin arbeitet mit den letzten verbliebenen Flachs- und Hanfverarbeiter*innen der Region.

Im Inneren schaffen die Tapisserien geschützte Zonen der Ruhe und Geborgenheit und umhüllen die umherlaufenden Betrachtenden. Drei Lautsprechertürme sind über die Halle verteilt und leiten die Besucher*innen mit einer Klangkomposition immer weiter in die Installation: Gesang vom Frauenchor Lada in mährischen Mikrodialekten, läutende Kirchenglocken, instrumentale Passagen und tschechische Textzeilen des Rappers Yzomandias. Den Soundtrack entwickelte der in Berlin und Brüssel lebende Komponist und Performancekünstler Billy Bultheel. Die Lautsprecher stammen aus Berliner Techno-Clubs. Staubig, zerkratzt und teilweise defekt, verweisen sie auf das Thema des Verfalls.

Die Besucher*innen laufen über mehr als 3.000 quadratische Betonplatten, die Hosnedlová an Gehwege ihrer Heimatstadt erinnern, auf denen sie als Kind spielte. Die Natur durchbricht mit Erde und Pfützen die regelmäße Oberfläche der gebauten Umwelt. In den Epoxidpfützen spiegelt sich die industrielle Architektur der Halle. Die harten Betonplatten kontrastieren die herabhängenden, weichen Flachs- und Hanfskulpturen. Sie verweisen sowohl auf die brutalistische Betonarchitektur des kommunistischen Ostmitteleuropas der 1970er-Jahre als auch auf die urbane Landschaft Berlins.

Acht dunkle Metallwände an den Längsseiten der weitläufigen Halle begrenzen die Szenerie. An diesen sowie den Tapisserien hängen sieben sandbeschichtete Reliefs. Die Texturen ähneln Fossilien und verweisen auf die prähistorische Vergangenheit Mährens. Gleichzeitig erinnern sie an sozialistische Wandfriese öffentlicher Gebäude im kommunistischen Ostmitteleuropa. In ihrer Kindheit sammelte die Künstlerin Fossilien als Schätze mit Spuren einer anderen Welt. Aus den Wandreliefs auf den Metallwänden ragen zudem Elemente aus farbigem, milchigem Glas spitz hervor. Das fragile Glas und die massiven, steinartigen Skulpturen verbinden Zerbrechlichkeit und Stärke. Für die Herstellung der handgegossenen Glasobjekte arbeitet Hosnedlová mit Kunsthandwerker*innen, deren Techniken und Wissen über Generationen weitergegeben werden.

In die Reliefs sind extrem feine Stickereien eingearbeitet, gestickte Bilder flüchtiger Momente. Sie zeigen Fragmente aus Performances für die Kamera, die die Künstlerin in Berlin und in früheren Ausstellungen inszeniert und fotografiert hat: ausgestreckte Finger, ein Feuerzeug, ein nackter Rücken. Eine Performance ohne Publikum, die im Hamburger Bahnhof stattfand, dient als Bildquelle für die nächste Installation der Künstlerin.

Zur Ausstellung erscheint eine Ausgabe der Katalogreihe des Hamburger Bahnhofs, herausgegeben von Silvana Editoriale Milano (12 Euro).

Die Ausstellung wird kuratiert von Sam Bardaouil, Direktor Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart und Anna-Catharina Gebbers, Kuratorin, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart.

Die CHANEL Commission im Hamburger Bahnhof wird ermöglicht durch CHANEL Culture Fund.
Unterstützt durch Hamburger Bahnhof International Companions e. V.


Öffnungszeiten:
Dienstag - Mittwoch: 10:00 - 18:00 Uhr
Donnerstag: 10:00 - 20:00 Uhr
Freitag: 10:00 - 18:00 Uhr
Samstag - Sonntag: 11:00 - 18:00 Uhr
Montag: geschlossen

Weitere Informationen direkt unter: smb.museum