Als Jürgen Paatz zu Beginn der 1970er Jahre in der Villa Romana in Florenz zu Gast war, hatte er sich bereits seit einigen Jahren vom konventionellen Tafelbild abgewandt. Anstelle dessen nahm er eine Position zwischen dem Objekt und der flachen Malerei ein, auch unter dem Einfluss der Arte-Povera-Bewegung: Er hängte bemalte Tücher an die Wände, er fotografierte die ruinösen Fassaden in italienischen Städten, und er experimentierte im Atelier mit Arbeiten aus Kreide, Watte, Holz und Stahlwolle. 

Bis heute nimmt die Suche nach einer erweiterten Malerei bei Paatz zwei Formen ein: Er sprengt den Rahmen des Tafelbildes einerseits durch den Bezug zu Objekten, andererseits durch eine Arbeitsweise, die eine Form der Performance beschreibt und auf einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Material basiert. Dabei ist das finale Werk weit weniger wichtig als der Prozess des Machens selbst. Anders als ein klassischer Maler interagiert Paatz mit dem Objekt und dem Material nicht aus der Ferne, sondern indem er buchstäblich mittendrin ist. Er hängt, stellt, schiebt, verputzt, schabt, und reibt. Fotos aus dem Atelier zeigen ihn, wie er am Boden auf einem großen farbbeschichteten Tuch kniet, das er mit beiden Händen knetet, um Material und Oberfläche zu verändern.

Die Ausstellung im Museum Kurhaus Kleve umfasst alle Schaffensphasen, aber einen besonderen Fokus liegt auf den installativen Arbeiten des Künstlers. Für Paatz gibt es das finale Werk an sich nicht. Vielmehr nehmen seine Arbeiten verschiedene „Zustände“ – temporäre Anordnungen – ein, die jederzeit in einen anderen übergehen können. Solche Zustände tauchen sowohl innerhalb eines Werks auf, sie beziehen sich aber auch auf ein potenziell endloses Kombinieren und Re-Kombinieren von einzelnen Arbeiten. Das gilt für seine Arbeiten aus Stoff genauso wie für die Leinwände, die auf Keilrahmen aufgezogen sind. Hat man diese Mobilität in der Werkauffassung von Paatz einmal verstanden, wird klar, wie wichtig dieses Vorgehen für den Künstler ist. Werke werden nicht für die Wand, sondern für Räume gedacht, in ortsspezifischen Kombination mit anderen Arbeiten, innerhalb eines Gesamten und unter Einbeziehung des Betrachters. Paatz arbeitet wie ein Dramaturg und dementsprechend versteht er seine Arbeiten auch weniger als statische Bilder denn als belebte Körper. 

Um die Relevanz des Körperlichen und Performativen im Werk von Paatz zu verstehen, haben zwei frühe Arbeiten zentrale Bedeutung: 1971 schafft der Künstler in Florenz ein Kreuz aus Stoff, das er direkt auf die Wand hängt. Wiederholt betont er, dass die Wahl der Kreuzform nichts mit christlicher Ikonografie zu tun hat, sondern sich weltlichen Aspekten widmet. In Größe und Form einem menschlichen Körper ähnlich, wird der anthropomorphische Eindruck durch die Farbe sowie die runden Ansätze, die scheinbar Rumpf und Arme verbinden, verstärkt. Das Tuch wirkt trotz seiner gespannten Form nicht starr, sondern erscheint durch sein weiches Material und die unregelmäßig aufgetragenen Farbschichten belebt. Zur gleichen Zeit entstehen andere Arbeiten, die vermehrt die Schwerkraft als Gestaltungsmittel einsetzen. Darunter ist eine Leinwand, die mit einem langen Stück Stahlwolle versetzt ist, welche zugleich als Aufhängung der Arbeit verwendet wird. Das Werk kann sowohl als Bild an der Wand als auch als Objekt mit Bodenkontakt installiert werden. Unabhängig von der Art und Weise der Präsentation bewirkt die durchgefädelte Stahlwolle, dass die Leinwand buchstäblich gehängt wird, sie kollabiert mehr oder weniger an ihrer eigenen Aufhängung. Unweigerlich wird der Betrachter Teil einer tragikomischen Inszenierung.

Auch bei den gerahmten Leinwänden ist für Paatz die Lebendigkeit des Objekts wichtig, er versucht ihnen eine Körperlichkeit zu geben, indem er ihre Oberfläche taktil gestaltet. Während Paatz in den frühen Tüchern die Farbe in erster Linie mit dem Pinsel aufträgt, benutzt er später Werkzeuge wie Löffel, Kamm, Schraubenzieher, Spachtelmesser oder seine eigene Hand. Die Farbe behandelt er wie ein Material, das er in Auseinandersetzung mit dem Objekt und sich selbst formt.

Die Ausstellung (fast) Alles greift nicht ohne Humor die Idee einer Retrospektive auf, die von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist: Verunmöglicht einerseits durch die immense Anzahl vorhandener Werke, die weder die Kuratorin noch der Künstler zu überblicken scheinen; verunmöglicht aber auch durch einen künstlerischen Ansatz, der ein mobiles Werkverständnis verfolgt und sich finale Produkten verwehrt. Aus diesen Gründen wurde von Anfang an verworfen, aus allen Werkphasen Arbeiten in der Ausstellung zu zeigen – so wurde zum Beispiel das Konvolut der Tagesbilder, das mehr als 400 Stück umfasst, ganz weggelassen. Anstelle dessen lag der Fokus auf den frühen Arbeiten aus Stoff, auf den Fotografien und auf ortsspezifischen Installationen. Diese Herangehensweise ermöglicht es in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler die prozesshaften, körperbezogenen und mobilen Aspekte des Werks zu beleuchten. Der Ausstellungstitel (fast) Alles bezieht sich deshalb auf eine Reihe von Unmöglichkeiten genauso wie auf eine Vielzahl von Möglichkeiten. Letzere erlaubt es auch, das Konstrukt Ausstellung mobil zu denken, indem ihre Einrichtung über die Laufzeit nicht nur kritisch befragt werden wird, sondern indem sie auch tatsächliche Veränderungen durchlaufen wird. 

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Beiträgen von Beat Wismer, Reinhard Ermen, Jean-Pierre Wils, Uta Husmeier-Schirlitz, Harald Kunde und Susanne Figner. Das Buch erscheint zweisprachig (dt./engl.), umfasst 180 Seiten mit ca. 120 Abbildungen und wird vom grass publishers herausgegeben.

@ Museum Kurhaus Kleve
19.03. - 11.06.2023

Jürgen Paatz: (fast) Alles

Museum Kurhaus Kleve

Tiergartenstraße 41
47533 Kleve