Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Weichen neu stellen. Über Generationen hat sich das westliche Denken im Zeichen von Expansion, Rationalität und Ausbeutung seine Vormachtstellung gesichert. Doch angesichts der Umwelt am Rand des Zerfalls und sozialer Ungerechtigkeiten nie dagewesenen Ausmaßes zeigen sich Maximen, die lange als unantastbar galten, als überholt. Der Ruf nach Alternativen ist laut und notwendig. Denker*innen, Aktivist*innen, Kunstschaffende und Forscher*innen fragen, wie eine lebenswerte und gerechtere Zukunft aussehen könnte. Die Suche führt nicht selten in die Vergangenheit und da wiederum zu jenen Kapiteln der Geschichtsschreibung, die lange als unwichtig erachtet oder gar ausgelöscht wurden: alternative Wissenssysteme, indigene Lebensweisen, ganzheitliche Kosmologien, usw. Auch in der Kunst gelangen Positionen an die Oberfläche, die aufgrund ihrer sozio-kulturellen Kontexts, ihres Geschlechts oder ihrer Ethnie ausgegrenzt wurden. Als Außenseiter*innenkunst, Kunsthandwerk, rituelle Artefakte oder Forschungspraxis fanden sie keinen Platz im allgemeinen Kunstdiskurs. 

Olga Fröbe-Kapteyn (geb. 1881, London, Großbritannien; gest. 1962, Ascona, Schweiz) ist eine solche Position. Ihr Leben als Frau, Forscherin, Spiritualistin und Künstlerin ist faszinierend. In den kulturell und politisch widrigen Jahren vor dem zweiten Weltkrieg vermittelte Fröbe-Kapteyn zwischen westlichen und östlichen Ansätzen der Wissensproduktion, setzte sich mit Theosophie und ostasiatischer Philosophie auseinander, legte ein riesiges Bildarchiv an und förderte den Austausch zwischen verschiedenen Disziplinen, viele Jahrzehnte bevor Transdisziplinarität in aller Munde war. Ihr bildnerisches Werk, die geometrisch-kraftvollen „Meditationstafeln“ und die später auf Papier festgehaltenen malerischen Visionen, sind Teil dieser Praxis und bringen die Eigenart und Unabhängigkeit von Fröbe-Kapteyns Schaffen zum Ausdruck. Sie sind, wie auch die Gründung der internationalen Eranos-Konferenzen in Ascona, Ausdruck von Fröbe-Kapteyns Streben, esoterisches, humanistisches und wissenschaftliches Wissen zu vereinen. 

Die Ausstellung in der Kunsthalle Mainz gibt erstmals einen umfassenden Einblick in Olga Fröbe-Kapteyns bildnerisches Schaffen. Zunächst ist es zentral, uns vor Augen zu halten, dass ihre Werke Werkzeuge von spirituellen und psychologischen Untersuchungen waren. Anhand eines vielgestaltigen Bildsystems suchte Fröbe-Kapteyn nach Antworten zur Weltordnung und zielte, ausgehend von der Vorstellung, dass Formen psychoaffektive Bedeutungen besitzen, auf Wirkungen und Effekte ab. Nicht als Spektakel, sondern im Glauben an die Handlungsfähigkeit von Bildern; überzeugt, dass sie heilende und erneuernde Kraft besitzen. 

Hier setzen die zeitgenössischen Arbeiten in der Ausstellung an, welche die Brücke von Fröbe-Kapteyns Werken in die Gegenwart schlagen. Die fünf Künstlerinnen beschäftigen sich mit Gegenkonzepten zu rational, weiß, patriarchisch und kolonial geprägtem Wissen. Sie schaffen in ihren Arbeiten Räume und Erzählungen, in denen sie zu Begegnungen mit solchen alternativen Formen von Wissen einladen – Wissen, das unterbewusst, körperlich, natürlich, spirituell, etc. ist – Wissen, das meist nicht über Worte, Sprache und Konzepte produziert und weitergegeben wird. Rituelle Praktiken in Geschichte und Gegenwart sind dabei häufig Ausgangspunkt. Wie auch Fröbe-Kapteyn thematisieren sie Kunst als Werkzeug von Forschung, Heilung, Kommunikation, usw. und nehmen dabei anti-koloniale, machtkritische Positionen ein. Deutlich wird dabei, wie das Prinzip von L’Art pour L’Art (Kunst-um-der-Kunst-Willen) nicht mehr wirklich in unsere Zeit passt. Stattdessen rückt das Wirken von Kunst (und von Bildern ganz allgemein) in den Vordergrund. Für solche Beschäftigungen können Fröbe-Kapteyns Arbeiten, mit denen sie spirituelle und wissenschaftliche Ideen erforschte, eine Inspirationsquelle darstellen. Ihre holistische und posthumanistische Weltsicht nimmt vieles, was im Zuge der Erweiterung der Kategorien der Kunst und des Denkens diskutiert werden, vorweg. 

Die Ausstellung erlaubt es, eine herausragende Figur der visionären Kunst des frühen 20. Jahrhundert zu entdecken. Dank der Zusammenarbeit mit der Bühnenbildnerin Belle Santos und der von ihr entwickelten Szenografie erschafft sie auch eine Atmosphäre, in dem das Wirken von Bildern erfahrbar wird – aus historischer wie zeitgenössischer Warte. 

Beteiligte Kunstschaffende:
Monia Ben Hamouda (*1991 in Mailand, lebt und arbeitet zwischen al-Qayrawan und Mailand) 
Kerstin Brätsch (b. 1979 in Hamburg, lebt in New York) 
Olga Fröbe-Kapteyn (geb. 1881, London, Großbritannien; gest. 1962, Ascona, Schweiz) 
Hylozoic/Desires (Himali Singh Soin, geb. in Delhi, lebt in London und New Delhi, Indien & David Soin Tappeser, *1985 in Deutschland, lebt in London und New Delhi
Mountain River Jump! (Huang Shan & Huang He, beide *1985, leben in Foshan, Guangdong, China) 
Sriwhana Spong (* 1979 in Auckland, Neuseeland, lebt in London, Großbritannien) 

Die Ausstellung wird mit freundlicher Unterstützung des Ministeriums für Familie, Frauen, Kultur und Integration sowie der Mainzer Volksbank realisiert.