In ihrer ersten Ausstellung in Deutschland präsentiert Niloufar Emamifar in den beiden Hauptausstellungsräumen des Künstlerhaus Stuttgart neu produzierte Arbeiten. Ausgehend von ihrem Architekturstudium beschäftigt sich Emamifar kontinuierlich mit den psychosozialen Dynamiken des gebauten Raums. Auf dieser Basis legt ihre Ausstellung EX GRATIA* den Fokus auf die ortsspezifische strukturelle Kapazität, die erforderlich ist, um den Bedürfnissen gelebter Beziehungen nachzukommen. Die Betonung materieller Bedingungen — das Insistieren auf operative Strukturen — bei der Betrachtung zwischenmenschlichen Erlebens ist ein zentraler Aspekt in Emamifars fortlaufender Auseinandersetzung mit dem Ausstellungswesen. Ihre Arbeit untersucht die ursächlichen (kausativen) Beziehungen zwischen Ort, Situation und Subjektivität. Emamifar geht davon aus, dass Lebewesen nicht festgelegt, sondern extrem durchlässig und dadurch anfällig für die konstruierten Systeme sind, die sie im Moment besetzen und verkörpern. Die Ausstellung der Künstlerin am Künstlerhaus Stuttgart ist auf diese Verletzlichkeit eingestimmt — die Künstlerin nimmt die Expositionsarbeit innerhalb der sie umgebenden Umstände auf sich und würdigt dabei gleichzeitig, dass individuelle Erfahrung letztlich nicht von den unterdrückenden strukturellen Realitäten getrennt werden kann, denen so viele Menschen ausgesetzt sind. Aufgrund der Produktionsbedingungen von EX GRATIA, mit denen Emamifar konfrontiert war, hat die Künstlerin die Anstrengung unternommen, dauerhafte Strukturen zu entwickeln, die von zukünftigen Künstler*innen bei deren Arbeit mit dem Künstlerhaus Stuttgart und anderen Institutionen im Kunstbereich in Deutschland angewendet werden können.

Als Emamifar mit der Produktion einer Ausstellung am Künstlerhaus Stuttgart (KHS) beauftragt wurde, wurde deutlich, dass das KHS nicht über die notwendige rechtliche und wirtschaftliche Infrastruktur verfügte, um für Künstler*innen, die ein Visum benötigen, die Migrant*innen sind, die vertrieben wurden oder die einen Geflüchteten-Status innehaben zugänglich zu sein. Unterstützung in Form von Rechtsberatung, jährlichen zweckgebundenen Geldern oder Weiterbildungsangeboten für Beschäftigte gab es an dieser fünfundvierzig Jahre alten Institution noch nicht. Wie viele Kunstinstitutionen in Deutschland und darüber hinaus, nimmt sich das KHS Künstler*innen, die bei der grenzüberschreitenden Migration mit Hürden konfrontiert sind, fallweise an — ohne institutionelle Richtlinien, Protokolle oder Verfahrensweisen, die entsprechend der Bundesgesetzgebung entwickelt und etabliert wurden. Als Reaktion auf die systemischen Unzulänglichkeiten und unzureichend ausgestattete Infrastruktur des KHS hat Emamifar einen Teil ihres Ausstellungsbudgets für eine Rechtsberatung aufgewendet. So konnten eine juristische Machbarkeitsstudie und praktikable Leitlinien für das KHS erarbeitet werden, um das KHS für die Arbeit mit Künstler*innen, die ein Visum benötigen, die Migrant*innen sind, die vertrieben wurden oder die einen Geflüchteten-Status innehaben auszustatten.

Anstatt einen individuellen Arbeitsvertrag zu entwerfen, beauftragte Emamifar die Rechtsberatung mit der Herstellung einer gemeinsamen Richtlinie, die innerhalb der gesamten Institution in allen zukünftigen Fällen angewandt und umgesetzt werden kann, in denen das KHS Künstler*innen mit der Arbeit an einer Ausstellung, einem Programm oder einer anderweitigen befristeten Beschäftigung in Stuttgart beauftragt. Die Rechtsberatung hat dieses nun vorgeschlagene Rahmenwerk in Modulen organisiert. Diese Module antizipieren bestimmte Fälle, in denen Künstler*innen vom KHS beschäftigt werden, und fokussieren sich auf Projektarbeit eher denn auf Vollzeit-Anstellungsverhältnisse. Personen, die für die Wahrung von Rechtsansprüchen eintreten, erkennen sowohl an, dass bei der landesspezifischen Rechtsprechung jeder Fall situationsspezifisch argumentiert und entschieden werden muss als auch, dass gewisse Standards zur Regelung und zum Schutz notwendig sind. Es ist weit bekannt, dass und wie bestimmte Lehrmeinungen individuelle Rechte häufig zu Lasten kollektiver Kämpfe für systemischen Wandel kodifizieren, legitimieren und durchsetzen. Um Anstellungsverfahren gerecht zu gestalten, werden vermehrt transparente Standards gefordert, anstatt Verträge von Arbeitnehmer*innen fallweise zu bearbeiten. Denn das reduziert häufig Bemühungen gegen strukturelle Unterdrückung auf isolierte, individuelle Beschwerden und Wiedergutmachungen. Indem sie mit potenziellen Governance-Vereinbarungen und Rechtshilfe-Infrastrukturen arbeitet, beschäftigt sich Emamifar in ihrer Ausstellung mit dem Recht als einem größtenteils unzugänglichen System. Ein System, das auch durch die anhaltenden Geschichten des Einwanderungsrechts, Armutsrechts, Arbeitsrechts und weitere Verfechter*innen einer besseren Zugänglichkeit sowie durch die Durchsetzung von Rechten innerhalb einer Rechtsordnung geprägt wurde, die allzu oft das kodifiziert, was die vorherrschende Wirtschaftsmacht als gerecht qualifiziert hat. Und das Recht ist selbstverständlich kein neutraler Verhaltensrahmen. Es wird definiert.

Auch wenn Emamifar sich für eine effektive Neudefinition grundlegender und unterliegender Strukturen einsetzt, ist sie gegenüber der Rolle von Künstler*innen als Kurzzeit-Beschäftigte, die sich für die Kapazitätsstärkung und damit langfristige Weiterentwicklung einer Kunstinstitution einsetzen, ambivalent. Es besteht eine reale Gefahr für Künstler*innen, wenn sie bei projektbezogener Arbeit auf die GovernanceStrukturen einer Institution einwirken. Künstler*innen werden häufig die Finanzmittel gekürzt, sie werden ausgeschlossen oder fallen gelassen, wenn sie in dem Versuch, in die institutionellen Verwaltungsstrukturen einzugreifen, über ihre erwartete Rolle hinausgehen. Dieses Risiko ist der Grund, weshalb Emamifar zentrale Kooperationspartner*innen — eine Rechtsberatung — hinzugezogen hat, die bei der Auseinandersetzung mit den strukturellen Gegebenheiten der Institution eine tragende Rolle hinter der Bühne genauso wie öffentlicher Form eingenommen haben. Emamifars Ausstellung umfasst eine Bühnenkonstruktion, auf der der Rechtsberatungsvertreter Dr. Martin Heller die rechtlichen und wirtschaftlichen Verfahrensrichtlinien, die das KHS bei der Beauftragung von Künstler*innen, die ein Visum benötigen, die Migrant*innen sind, die vertrieben wurden oder die einen Geflüchteten-Status innehaben anwenden kann, öffentlich präsentieren wird. Die Entscheidung von Emamifar, eine Plattform für die öffentliche Präsentation Hellers dieser vorgeschlagenen rechtlichen und wirtschaftlichen Infrastruktur zu schaffen, beruht auf zentralen Fragen der Repräsentation, mit denen sich die Künstlerin befasst: Welche Risiken entstehen durch Sichtbarkeit und „platforming“ — die materielle Infrastruktur und Ressourcen, die für den Raum und Fokus auf marginalisierte Stimmen bereitgestellt werden –, wenn es um die wahrheitsgemäße Darstellung gelebter politischer Realitäten geht? Was bedeutet es für Emamifar, Heller mit der öffentlichen Expositions- und Weiterbildungsarbeit zu beauftragen, und dabei das Publikum mit den strukturellen Erfordernissen für Visumantragsteller*innen, Migrant*innen, Vertriebene und Personen mit Geflüchteten-Status zu konfrontieren? In welchem Maße wird dieses rechtliche und wirtschaftliche Rahmenwerk einer internen sowie gleichzeitig einer außenwirksamen Policy dienen und alltägliche Erwägungen anbieten, die sowohl KHS-spezifisch sind als auch reproduzierbare Modelle für institutionelle Verhaltensweisen nahelegen, die ungerechte, ausschließende und diskriminierende Einstellungsverfahren, wie sie im gesamten Kunstbereich verbreitet sind, herausfordern?

Der Titel von Emamifars Ausstellung, EX GRATIA, bezieht sich auf einen Begriff aus dem Rechtskontext und meint eine Zahlung, die nicht aus einer rechtlichen Pflicht, sondern aufgrund begründeter Umstände geleistet wird. Es ist eine Art rechtlich anerkanntes Standardverfahren, das nicht festgelegt oder vorgeschrieben ist. Im Deutschen auch als Kulanz bekannt, ist es eine rechtlich anerkannte, jedoch außergesetzliche Erwägung. Ex gratia-Zahlungen sind moralisch begründet und gesetzlich nicht erforderlich — das heißt sie sind oft ein Regressmittel, das strenger ist als das gesetzlich vorgeschriebene. Emamifars Ausstellung umfasst eine vollständig ausgefertigte Vereinbarung zwischen der Künstlerin und dem KHS zur Lagerung von Materialien, die der Künstlerin gehören, in mehreren Bankschließfächern im vierten Stock des KHS — und zwar solange das KHS seine aktuellen Räume in der Reuchlinstraße mietet. Eine zentrale Klausel dieser Vereinbarung ist, dass Emamifar eine Person bevollmächtigen kann, Zugang zu den Bankschließfächern zu erhalten, die die Künstlerin zur Verfügung gestellt hat. Sollte die Künstlerin einer Person die Vollmacht und damit Zugriff zu den Bankschließfächern erteilen, gelten alle Bedingungen der Vereinbarung genauso für die bevollmächtigte Person wie für die Künstlerin. Diese Vereinbarung ist auf den folgenden Seiten des Ausstellungspamphletes enthalten. 


* Ex gratia bedeutet im Rechtskontext eine Zahlung aus Kulanz, also eine freiwillige Zahlung, die nicht auf Basis einer Rechtspflicht, sondern aus moralischen Gründen oder aufgrund besonderer Gegebenheiten geleistet und so auch begründet wird.