Das Museum Barberini eröffnet mit Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne die erste umfassende Werkschau, die das Interesse der Surrealisten an Okkultismus und Magie in den Blick nimmt. Mit rund 90 Werken spannt die Ausstellung den Bogen von der „metaphysischen Malerei“ Giorgio de Chiricos um 1915 über Max Ernsts ikonisches Gemälde Die Einkleidung der Braut (1940) bis zu den okkulten Bildwelten im Spätwerk von Leonora Carrington und Remedios Varo. Weltbekannte Arbeiten von lange im Kanon verankerten Malern wie Salvador Dalí, Giorgio de Chirico, Max Ernst und René Magritte werden gezielt neben Schlüsselwerken weniger bekannter Künstler gezeigt, darunter Victor Brauner, Enrico Donati, Óscar Domínguez, Wifredo Lam, Wolfgang Paalen, Roland Penrose und Kurt Seligmann. Darüber hinaus beleuchtet die Ausstellung den zentralen Beitrag von Künstlerinnen wie Leonora Carrington, Leonor Fini, Jacqueline Lamba, Kay Sage, Dorothea Tanning und Remedios Varo.

Mit Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern aus 15 Ländern und Exponaten aus den Jahren 1914 bis 1987 präsentiert die Werkschau den Surrealismus als globale, transnationale Bewegung, deren Wirkkraft weit über das Frankreich der 1920er- und 1930er-Jahre hinausstrahlte. Die Leihgaben stammen aus über 50 Museums- und Privatsammlungen, darunter das Art Institute of Chicago, die Menil Collection in Houston, das Israel Museum in Jerusalem, das Museo nacional Thyssen-Bornemisza in Madrid, das Metropolitan Museum of Art und das Whitney Museum of American Art in New York, das San Francisco Museum of Modern Art sowie das Centre Pompidou in Paris. Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne entstand in Kooperation mit der Peggy Guggenheim Collection, Venedig. Dort war die Ausstellung von April bis September 2022 parallel zur Biennale di Venezia zu sehen.

Anhand von rund 90 Arbeiten von über 20 Künstlerinnen und Künstlern verfolgt die Ausstellung die Entwicklung der surrealistischen Bewegung. Die ausgewählten Arbeiten geben einen facettenreichen Überblick über die stilistische und ikonographische Vielfalt des Surrealismus – einer Bewegung, die sich nicht primär als künstlerische und literarische Strömung verstand, sondern vielmehr als eine Lebensauffassung. Ausgangspunkt des Ausstellungsprojekts war die wissenschaftliche Forschung der beiden Kuratoren aus Venedig und Potsdam: Gražina Subelytes Dissertation zu Kurt Seligmann, Surrealismus und Magie (The Courtauld Institute of Art, 2021), und Daniel Zamanis Promotion über das Zusammenspiel mittelalterlicher und okkulter Motive im Werk André Bretons (University of Cambridge, 2017).

„Die umfangreichen Leihverhandlungen konnten auf dem herausragenden Bestand der Peggy Guggenheim Collection aufbauen, die über eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen surrealistischer Malerei verfügt. Zahlreiche Arbeiten, die Peggy Guggenheim im Zuge ihres Mäzenatentums der surrealistischen Bewegung erworben hatte, spiegeln deren ikonographische Anleihen aus okkulter Symbolik eindringlich wider – darunter Victor Brauners Der Surrealist, Paul Delvaux’ Anbruch des Tages, Max Ernsts Der Gegenpapst, Leonor Finis Die Hirtin der Sphinxe sowie Yves Tanguys Die Sonne in ihrem Schmuckkästchen“, sagt Ortrud Westheider, Direktorin des Museums Barberini. Erweitert wird dieser Grundstock an Arbeiten durch Leihgaben aus mehr als 50 internationalen Museums- und Privatsammlungen, viele davon Ikonen der surrealistischen Malerei. Kanonische Positionen der Kunst des 20. Jahrhunderts wie Salvador Dalí, Max Ernst und René Magritte sind in der Ausstellung ebenso vertreten wie Künstlerinnen und Künstler, die es neu zu entdecken gilt, darunter Óscar Domínguez, Wilhelm Freddie, Jacques Hérold, Wifredo Lam, Jacqueline Lamba, Wolfgang Paalen oder Roland Penrose. „Mit ihren traumartigen Bildfindungen wollten die Surrealisten die menschliche Vorstellungskraft anspornen und die Betrachter zu einer Auseinandersetzung mit ihrem Innenleben anregen“, erläutert Daniel Zamani, Kurator der Schau. „In diesem Sinn sollte die Begegnung mit einem surrealistischen Werk ein transformatives Ereignis darstellen und einen neuen Blick auf die Wirklichkeit erffnen. Dorothea Tanning etwa erklärte, sie wolle in ihren Arbeiten ‘die Tür zur Phantasie ffenlassen, damit der Betrachter jedes Mal etwas anderes sieht’“. Die Ausstellung Surrealismus und Magie lädt ein in dieses Reich der Phantastik, das sich entschieden von heute proklamierten „alternativen Wahrheiten“ abgrenzt.

Eine Ausstellung des Museums Barberini, Potsdam, und der Peggy Guggenheim Collection, Venedig, kuratiert von Gražina Subelyte (Venedig) und Daniel Zamani (Potsdam). Zur Ausstellung erscheint ein 240-seitiger Katalog (Prestel, 2022, englisch/deutsch) mit Beiträgen von Susan Aberth, Will Atkin, Victoria Ferentinou, Alyce Mahon, Kristoffer Noheden, Gavin Parkinson, Gražina Subelyte und Daniel Zamani.

Hinwendung zum Unbewussten und Irrationalen
Mit dem Manifest des Surrealismus begründete der französische Schriftsteller André Breton 1924 eine neue literarische und künstlerische Strömung. Ausgehend von Paris wurde sie bald zur international tonangebenden Avantgardebewegung. Auf der viel beachteten Exposition Internationale du Surréalisme, die 1938 in der Galerie Beaux-Arts stattfand, konnte Breton über 200 Werke von 60 Künstlerinnen und Künstlern aus 14 Ländern versammeln. Im Zentrum des Surrealismus stand die Welt des Traums und des Unbewussten. Anders als den Impressionismus oder den Kubismus kennzeichnet den Surrealismus kein einheitlicher Stil, sondern eine Geisteshaltung. Die Künstler wollten sich mit ihrem Seelenleben auseinandersetzen, inneren Wunschbildern und Ängsten Ausdruck verleihen. Dabei wählten sie zwischen abstrakten, semiabstrakten oder figurativen Verfahren. Mit ihrer Rätselhaftigkeit wollten sie die Betrachter in eine traumartige, „surreale“ Sicht auf die Wirklichkeit einführen.

Magie und Okkultismus
Zahlreiche Surrealisten waren mit Sigmund Freuds Abhandlung Totem und Tabu vertraut. In diesem 1913 erschienenen Text hatte Freud die Entstehung künstlerischen Wirkens mit einem magischen Impuls in Zusammenhang gebracht. Das Hauptmerkmal der Magie sah er in dem Glauben an die „Allmacht der Gedanken“. Breton und seine Mitstreiter waren fasziniert von der Idee, innere Wünsche und Sehnsüchte könnten die äußere Wirklichkeit unmittelbar beeinflussen. Obwohl sie den Glauben an das Übernatürliche ablehnten, nutzten sie die Magie als vielschichtige Metapher für das Surreale – ein Zustand, in dem die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit aufgehoben sein sollte. Darüber hinaus waren die Surrealisten mit dem tradierten Vergleich zwischen Magier und Maler vertraut, die beide in der Lage sind, aufgrund ihrer Vorstellungskraft neue, illusorische Welten zu erschffen.

Die Magie ist eng mit dem Okkultismus verwandt – einem jahrtausendealten Ideensystem, das auf dem Glauben an die Existenz höherer Kräfte beruht, die das Universum durchwirken, aber sich rational wissenschaftlichem Zugang versperren. Ein Kernaspekt ist die „Theorie der Korrespondenzen“, nach der das Universum ein einziger lebendiger Organismus ist und der Mensch und seine Außenwelt, der Mikro- und der Makrokosmos, durch Analogien und symbolische Übereinstimmungen dynamisch miteinander verflochten sind. Die Surrealisten griffen die Bedeutung des lateinischen Wortes occultus auf, das sich als „verborgen“ oder „versteckt“ übersetzen lässt. Für Breton und die Surrealisten war das Okkulte jedoch kein Synonym für ein übernatürliches Jenseits. Stattdessen instrumentalisierten sie es als Metapher für das Surreale und das Unbewusste, dessen Abgründe und Tiefen sie in ihrer Kunst und Literatur zu erforschen suchten.

Neuerung und Wandel
Obwohl die Beschäftigung mit dem Okkultismus seit den Anfängen der surrealistischen Bewegung eine wichtige Rolle gespielt hatte, gewann sie nach Beginn des Zweiten Weltkriegs an Bedeutung. Mit dem Aufkommen faschistischen Terrors in Europa fertigten zahlreiche Surrealisten Bilder, deren unheimliche Phantasielandschaften ein Spiegelbild existenzieller Ängste sein sollten. Zugleich griffen sie auf okkulte und magische Motive zurück, um ihrer Hoffnung auf Neuerung und Wandel bildhaften Ausdruck zu verleihen.

Eine Inspirationsquelle war die Symbolsprache der Alchemie – einer okkulten Geheimwissenschaft, in deren Zentrum die Idee geistiger und materieller Wandlung steht. Breton war wie viele andere Surrealisten Anfang der 1940er Jahre aus dem durch die Nationalsozialisten besetzten Frankreich geflohen und setzte die avantgardistischen Aktivitäten der Gruppe in New York fort. Sein Buch Arkanum 17 (1945) steht exemplarisch für das surrealistische Programm während des Zweiten Weltkriegs. Der Titel verweist auf das 17. große Arkanum des Tarotspiels – die Karte „Der Stern“, die in okkulten Interpretationen als Sinnbild von Hoffnung, Neuerung und magischem Schutz steht. Breton verwob seine Erzählung mit zahlreichen Anspielungen auf Mythos und Legende, insbesondere magische Frauengestalten wie die ägyptische Muttergöttin Isis oder die mittelalterliche Meerjungfrau Melusine – Figuren, die er als Ausdruck von spiritueller Heilung und kulturellem Neubeginn verstand.

Moderne Künstler-Magier
Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, die dem Surrealismus nahestanden, teilten Bretons Interesse an Magie und Okkultismus, darunter Victor Brauner, Leonora Carrington, Enrico Donati, Max Ernst, Leonor Fini und Kurt Seligmann. Der 1891 im rheinländischen Brühl geborene Ernst hatte sich früh für die mittelalterliche Folklore seines Heimatlandes begeistert und sich bereits in seinen Studienjahren in Bonn mit alchemistischer Symbolik auseinandergesetzt. Sein Umzug nach Paris in den frühen 1920er Jahren trug maßgeblich zur „Okkultation“ der Bewegung bei. Eine Sonderausgabe der amerikanischen Avantgardezeitschrift View feierte Ernst 1942 als den führenden Künstler-Magier des Surrealismus. Unter den zahlreichen Illustrationen in der Zeitschrift befand sich ein Portrait Ernsts, das seine ehemalige Partnerin Leonora Carrington gefertigt hatte und in dem Ernst von einem weißen Pferd durch eine eisige Schneelandschaft geleitet wird. Sein purpurroter Federmantel erinnert an die rituelle Kleidung sibirischer Schamanen. Ernst reagierte auf das Bild mit seinem Gemälde Einkleidung der Braut, einem der Schlüsselwerke der Postdamer Ausstellung, in dem er Carrington als zaubermächtige Verführerin darstellte und für das er Inspiration aus der Malerei der Renaissance bezog. Wie viele andere in dieser Ausstellung gezeigten Künstler waren Ernst und Carrington 1947 auf der von Breton und Marcel Duchamp organisierten Exposition Internationale du Surréalisme vertreten, die in der Pariser Galerie von Aimé Maeght stattfand und den Themen Mythos und Magie gewidmet war. Mit rund 200 Werken von etwa 100 Künstlerinnen und Künstlern aus 25 Ländern signalisierte die Werkschau den eindrucksvollen Neubeginn des Surrealismus im befreiten Nachkriegsfrankreich. Surrealismus