Mit der Einzelausstellung von Werken des italienischen Künstlers Yuri Ancarani präsentiert der Kunstverein Hannover die erste institutionelle Übersichtsschau in Deutschland. 

Die ästhetische Wirkung der teils abendfüllenden Filme von Yuri Ancarani ist eine ganz besondere: Sie haben eine teilweise hypnotische Qualität. Gleichzeitig jedoch dokumentieren sie blinde, verborgene Felder unserer Gesellschaft, die in ihren anachronistischen, patriarchalischen Strukturen Erinnerungen an längst vergangene Tage wecken. Da sind zum Beispiel die weltberühmten Marmorsteinbrüche im italienischen Carrara, da ist das im Volksmund als »San Siro« bezeichnete Stadion in Mailand oder der überbordende Reichtum in Katar: Immer setzt Ancarani den einzelnen Menschen in den Dialog mit seinem mechanisierten Umfeld, sodass filmische Feldstudien entstehen, die ein faszinierendes Porträt des Menschseins, insbesondere des Patriarchats, schaffen.
Ancaranis Filme gehen in ihrer präzisen Beobachtung und experimentellen Inszenierung weit über das Format einer traditionellen Dokumentation hinaus. Typische Stilmittel wie Kamerabewegungen werden vom Künstler bewusst sehr sparsam eingesetzt. Eher fokussiert Ancarani auf konkrete Motive, die als bewegte Einzelbilder poetischen Kompositionen gleichen und eine skulpturale Qualität entwickeln. Für seine Arbeiten hat der in Ravenna geborene Künstler zahlreiche Filmpreise erhalten, so unter anderem den Jury-Preis des Film Festivals von Locarno – und das, obwohl seine Filme nicht als klassische Dokumentarfilme intendiert sind. Die künstlerische Qualität seiner Arbeiten zeigt sich in einer virtuosen filmischen Inszenierung der genannten blinden Felder, die wie unter einem Brennglas von der Kamera eingefangen und für die Zuschauer*innen sichtbar gemacht werden. Der zeitliche Aufwand dieser Vorgehensweise ist immens:
Bei einem seiner bekanntesten Werke »Il Capo« (2010) betrugen die Dreharbeiten beinahe drei Jahre. In dieser Zeit hat der Künstler sich nicht nur Zugang zu einer archaischen, von Männern dominierten Welt verschafft – dem Marmorabbau in Carrara –, sondern akribisch Bildmaterial von der tagtäglichen Arbeit und ihren Akteuren gesammelt. Der Protagonist des Films ist der titelgebende »Chef« (Capo), der gleich einem Dirigenten aufwendige Choreografien von Baggern und Arbeitern aufführen lässt. In ruhigen Schuss-Gegenschuss-Einstellungen setzt Ancarani die atemberaubende, teils gleißende Marmorlandschaft mit dem einzelnen Menschen in Verbindung, der sich mittels seiner monströsen »Prothesen« (Bagger) in dieser surrealen Umgebung behauptet.
In Ancaranis bislang längstem Film »The Challenge« (2016, vgl. Abb. 2) steht die ausufernde Dekadenz unserer Gesellschaft im Fokus, die sich in reichen arabischen Staaten herauskristallisiert. In dem knapp 70-minütigen Film porträtiert der Künstler den Alltag junger Scheiche aus Katar, die sich zwischen westlichem Materialismus und traditionellen arabischen Gesellschaftsnormen bewegen. Während die dominante gesellschaftliche Stellung des Mannes nicht hinterfragt wird, sind Frauen nahezu unsichtbar im öffentlichen Leben des Emirates. Ancarani begleitet mit seiner Filmkamera die jungen Männer beim alltäglichen Zeitvertreib, der den eigenen Luxus offensiv zur Schau stellt: Neben vergoldeten Motorrädern, Luxusautos und Privat-Jets sind es insbesondere der Erwerb und das Sammeln von Prestige-Objekten wie Falken oder anderen exotischen Tieren. Diesen titelgebenden Wettbewerb (challenge) verfolgt Ancarani kommentarlos mit seiner Kamera und zwingt damit die Betrachter*innen, sich der gezeigten Dekadenz, dem Materialimus, dem Geschlechterbild zu stellen und eine eigene Haltung zu entwickeln.
Yuri Ancarani thematisiert patriarchalische Strukturen, die über Jahrhunderte gewachsen sind und auf denen unsere westliche Gesellschaft nach wie vor fußt. Die Entzauberung ungerechter männlicher Privilegien zieht sich wie ein roter Faden durch die gezeigten Werke. Ancarani bezeichnet sich selbst als »filmemachenden Künstler« und nicht als Filmemacher, da sein künstlerisches Selbstverständnis eine Auseinandersetzung mit dem filmischen Medium vorsieht, die die traditionellen Filmkonventionen sprengt. 

Für seine Ausstellung im Kunstverein wird Yuri Ancarani bis zu acht Filme präsentieren, die in installativer Form in den Räumen zu sehen sein werden. Die Raum-Settings laden zum Verweilen ein, zeichnen sie sich doch durch ihre monochrom gehaltene Großzügigkeit und ihre Ausstattung mit bequemen Sitzmöbeln aus. Anders als bei üblichen Black-Box-Präsentationen in Museen sorgte Ancarani bereits vor Corona für genügend Platz zwischen den Zuschauer*innen, um die Nachhaltigkeit des Seherlebnisses zu verstärken.