Wie kein anderer Werkstoff stehen die modernen Kunststoffe für die Demokratisierung in der Welt der Dinge. Sie eignen sich als Ersatz für traditionelle Materialien, sind günstiges Ausgangsmaterial für preiswert hergestellte Massenartikel, aber auch hochwertige Werkstoffe für Industrieprodukte mit langer Lebensdauer. Doch bereits lange vorher kamen immer wieder neue, menschengemachte Materialien in den alltäglichen Gebrauch: Bronze und Eisen, Glas und Porzellan, Papier und Beton. Die Erfindung und Herstellung von Kunststoffen sind so alt wie die Kulturgeschichte der Menschheit.
Von diesem Ansatz ausgehend schlägt die Ausstellung einen Bogen in die Pionierzeit der Entwicklung moderner Kunststoffe für den Konsumbereich, den 1950er und 1960er Jahren. In dieser Zeit entwickelte sich der Beruf der Produktgestalter*innen. Gleichzeitig wurden immer mehr Artikel aus synthetischen Kunststoffen hergestellt. Eine bis dahin nicht gekannte Form- und Farbgebung wurde damit möglich. Wie aber sollten die Gestalter*innen damit umgehen? Welche Kriterien für die Qualität eines Entwurfs konnten übernommen, welche mussten neu entwickelt, welche Regeln beachtet werden?
Kunststoffe sind wertvolle, vielfältig einsetzbare Werkstoffe. Doch sie werden zum Problem, wenn sie als Abfall in der Umwelt landen, Ökosysteme, Lebewesen und unsere Gesundheit schädigen. Nachhaltigkeit durch den Einsatz langlebiger Produkte und die Wiederverwertung von Rohstoffen ist deshalb zu einem wichtigen Kriterium guten Designs geworden. Hierzu will die Ausstellung auch einen Diskussionsbeitrag leisten.
Kunstoff im Alltag:
Künstliche, von Menschen erzeugten Materialien sind meist wesentlich langlebiger als natürliche Stoffe. Einmal dem Kreislauf der Natur entnommen und neu zusammengesetzt, bleiben sie auch dann erhalten, wenn wir sie nicht mehr gebrauchen. Weder Mikroorganismen noch der Sauerstoffgehalt der Luft können diesen Erzeugnissen moderner Industrieproduktion etwas anhaben. Als Abfall finden wir sie in gelben Säcken, auf Straßen und Plätzen, in Wäldern und an Bachrändern, an Stränden, in den Mägen zahlreicher Tiere, und nicht zuletzt im „großen Müllstrudel“ im Pazifik zwischen den USA und Japan.
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein waren die neuen Kunststoffe vor allem für die Kriegs- und Waffentechnik relevant gewesen. Nun sahen sich die Herstellerfirmen nach neuen Absatzmärkten um. Hatten Kunststoffe für viele Verbraucher bis dahin als billiger Ersatz gegolten, so suchten viele Produzenten nun, ihnen eine neue Attraktivität zu verleihen: Sie waren leicht, gut zu reinigen und in vielen Farben herstellbar. Das machte sie auch für den alltäglichen Gebrauch attraktiv. Blechernen Gießkannen und Eimer, hölzerne Bierkästen, Porzellangeschirre, Spielzeuge und Besteck aus Metall wurden vielfach durch ihre Kunststoff-Geschwister ersetzt. Langsam durchdrang der neue Werkstoff die Gegenstandswelt der Verbraucher.
Während die Art ihrer Herstellung, die Kriterien von Gestaltung und Gebrauch all dieser Dinge in der Pionierzeit der modernen Kunststoffe ein wichtiges Thema war, machten sich um ihr Nachleben die wenigsten Menschen Gedanken. Heute zwingt uns die schiere Masse dieser zurückgebliebenen "Artefakte unseres Mülls" dazu, uns mit ihm zu beschäftigen.
Kunststoffe aus allen Zeiten:
Kunststoffe im weiteren Sinne gibt es, seit Menschen Stoffe aus dem Kreislauf der Natur entnehmen und damit Dinge herstellen. Angefangen von den ersten Töpfern, die aus Tonerde Gefäße formten und sie brannten, über Schmiede, die die hohe Kunst der Metallverarbeitung erfanden und perfektionierten, bis zu Glasbläsern, Porzellanherstellern. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erforschen Wissenschaftler systematisch, wie sie aus Rohstoffen wie Steinkohleteer und später Erdöl neue Materialien synthetisieren können. Daraus sind zahlreiche Gegenstände entstanden, die wir uns aus unserem heutigen Alltag nicht mehr wegdenken können. Die Ausgangsmaterialien sind nicht teuer, die Herstellungskosten können dank massenhafter Produktion niedrig gehalten werden. Damit stehen sie auch für eine Demokratisierung in der Welt der Gegenstände: Viele Menschen können sich nun viel mehr Dinge leisten als zuvor.
Kunststoffwerkstatt an der HfG :
Schon in ihren ersten Programmentwürfen für die neue Hochschule für Gestaltung sahen ihre Gründer eine Werkstatt für moderne Kunststoffe vor. Doch erst 1958, drei Jahre nach der Einweihung der Hochschulgebäude, wurde auf die Initiative der beiden Dozenten für Produktgestaltung, Walter Zeischegg und Hans Gugelot, eine solche Werkstatt tatsächlich eingerichtet. Die Kunststoffwerkstatt diente vor allem dem Experimentieren und dem Modellbau. Anders als beispielsweise im Holzbereich ließen sich viele Herstellungsverfahren für Kunststoffprodukte im Rahmen einer Schulwerkstatt gar nicht anwenden: Die Anschaffung einer Spritzgussmaschine oder einer hydraulischen Heizpresse etwa lohnte sich nur für Industriebetriebe, die dann auch entsprechende Stückzahlen produzierten.
Grundlagen der Gestaltung:
Im ersten Jahr ihres Studiums erarbeiteten sich die HfG-Studenten grundlegende gestalterische Prinzipien. Systematisch setzten sie sich mit verschiedenen Werkstoffen – Gips, Holz, Metall und dann auch Kunststoff – auseinander. Die Beschäftigung mit Farbe spielte ebenfalls eine wichtige Rolle. Moderne, synthetisch hergestellte Kunststoffe fordern die Gestalter von Industrieprodukten auf ganz besondere Art heraus: Sie lassen sich in vielfältige Formen gießen, blasen, pressen oder ziehen und können beliebig eingefärbt werden. Traditionelle Kriterien für eine gute Gestaltung – etwa die Frage der „Werkgerechtigkeit“ – lassen sich auf sie kaum anwenden, weil sie so flexibel sind.
Mit gezielten Aufgabenstellungen erreichten die Lehrenden an der HfG, dass sich die Studierenden jeweils mit einzelnen gestalterischen Aspekten wie der Stabilisierung von Flächen, der Bildung von Netzen oder mit geometrischen Formen wie dem Möbiusband auseinandersetzten. Dabei gewannen die neuen Kunststoffe immer mehr an Bedeutung. Auch die Auseinandersetzung mit dem Thema Farbe war ergiebig und intensiv. Insbesondere in den ersten Jahren wurde das Thema von den ehemaligen Bauhaus-Lehrenden im Rahmen der Grundlehre ausführlich aufgegriffen.
Walter Zeischegg - Geometrische Prinzipien - Wellflächenquadrat:
Der Bildhauer Walter Zeischegg hatte sich gleich nach seinem Studium in Wien für das Thema Produktgestaltung und die Möglichkeiten, die die neuen Kunststoffe in diesem Bereich boten, interessiert. 1951 kam er nach Ulm, um auf Einladung von Max Bill am Aufbau der Hochschule und des daran angeschlossenen „Instituts für Produktform” mitzuwirken. Hatte er zu Beginn dieser Zeit der Kunst ganz abgeschworen, so begann Walter Zeischegg in den 1960er Jahren, sich wieder intensiv mit geometrischen Formen zu beschäftigen.
Hierdurch kam Walter Zeischegg zu einer ganz eigenen Qualität der Gestaltung. Anders als sein eher praktisch orientierter Kollege Hans Gugelot faszinierte ihn in erster Linie geometrische Prinzipien, die er dann in praktische Anwendungen umzusetzen suchte. "Wellflächenascher", "Party-Snack-Set" und "Hot-Pot-Base" waren aus der Beschäftigung mit der Sinus-Kurve entstanden, bevor ihnen eine Funktion zugewiesen wurde. Einer der wichtigsten Mitarbeiter Walter Zeischeggs war der gelernte Werkzeugmacher Josef Schlecker. Er leitete die Metallwerkstatt der HfG und setzte sich zugleich intensiv mit den neuen Werkstoffen auseinander. Die Entwürfe für diese Objekte beruhen auf dem Graphen der Sinusfunktion. Dieser ergibt eine perfekte Wellenform, die sich auch bei den Meereswellen annähernd wiederfindet. Walter Zeischegg übertrug diese Schwingungen auf verschiedene Formen, darunter Quadrat und Kreis. Die Herstellung der daraus entwickelten Objekte war ohne die Unterstützung von Rechnern handwerklich eine Herausforderung und erforderte von den Beteiligten ein gutes Vorstellungsvermögen.
Durch die Übertragung der Sinusschwingung auf die Form Kreisform entstand Walter Zeischeggs „Wellflächenascher”, der seit 1967 mit großem Erfolg von der Firma Helit hergestellt und vermarktet wurde. Die Herstellung einer Gussform für das Melaminharz, aus dem er bestehen sollte, erwies sich angesichts der technischen Möglichkeiten dieser Zeit als Herausforderung. Die Form der Sinuskurven wurde Schnitt für Schnitt aus dem Metallblock herausgesägt, die Flächen dann von Hand glatt gefeilt. Als weitere Variation dieses Themas entstand der Untersetzer „Hot-Pot-Base”. Das große Wellflächenobjekt ist eine Weiterentwicklung mit der Fragestellung: Was passiert, wenn man die Schwünge reduziert und sich in der Mitte treffen lässt?
Weiß, grau und rot - Farbsysteme:
Nachdem sich die Studenten in der Grundlehre so intensiv mit Farben beschäftigt hatten, verwundert es, dass viele der HfG-Entwürfe sich gerade nicht durch Farbigkeit auszeichnen. Vor allem in den frühen 1960er Jahren wurden oft nur bewegliche Teile oder Anzeige-Elemente rot markiert; gegen Ende des Jahrzehnts übernahm Orange die Funktion einer Signalfarbe. Dieses Phänomen dürfte auch deshalb entstanden sein, weil man sich im Umgang mit Kunststoffen zunächst ähnlich verhielt wie bei anderen Werkstoffen – etwa Holz, Gips oder Metall – die alle eine natürliche Farbgebung besitzen. Die Entdeckung, dass die neuen Materialien eine ungeheure Farbvielfalt erlaubten und die Überlegung, wie man damit umgehen konnte, war ebenso ein Lernprozess wie die Frage nach einer angemessenen Formgebung.
Angesichts der möglichen Farbvielfalt von Kunststoffen war es eine schiere Notwendigkeit für Gestalterinnen und Hersteller, die Auswahl einzuschränken: Ein zu großes Angebot an Möglichkeiten beeinträchtigt die Entscheidungsfindung und bedeutet für kunststoffproduzierende Firmen einen zu großen Aufwand in der Produktion. Deshalb gab die BASF aus Ludwigshafen bei Otl Aicher die Entwicklung einer „Colorthek” in Auftrag: Das Angebot für Polystyrole im Bereich der HaushaltsgeräteHerstellung sollte auf diese Weise standardisiert werden. Aicher und seine Entwicklungsgruppe setzten dabei Anfang der 1960er Jahre noch auf eine zurückhaltende Farbgebung.
Gute Form und Gutes Leben:
Die Mitglieder der Hochschule für Gestaltung waren erfüllt von einer Mission: Ganz im Sinne des Versprechens der Moderne wollten sie vielen Menschen ein gutes Leben ermöglichen. Als sie in den 1950er und 1960er Jahren ihre Kriterien für die gute Gestaltung von Gebrauchsgegenständen entwickelten, stellten sie sich vor, dass es für jedes industriell hergestellte Ding so etwas wie eine perfekte, „gute Form” geben müsse, die zu finden ihre Aufgabe sei. In großen Mengen hergestellt, konnten gerade durch den Einsatz der polymeren Kunststoffe tatsächlich viel mehr Menschen einen bis dahin nie gekannten materiellen Reichtum erlangen und sich mit Dingen umgeben, die zuvor nur wenigen vorbehalten waren.
Nachhaltigkeit:
Der Begriff der Nachhaltigkeit stammt aus der Forstwirtschaft und bezog sich darauf, dass etwas andauert, wenn nicht mehr Holz gefällt wird, als nachwachsen konnte, bleibt ein Wald lange erhalten. Seine umwelt- und entwicklungspolitische Bedeutung erhielt der Begriff der Nachhaltigkeit erst in den Debatten der 1980er Jahre. Heute wird er vielfältig und in vielen Zusammenhängen gebraucht sozial, ökologisch, wirtschaftlich. Die Idee der „guten Form“, wie sie an der HfG gepflegt wurde, beinhaltete also durchaus eine Vorstellung von Nachhaltigkeit: Die Dinge sollten sorgfältig hergestellt, einmal angeschafft, lange gebraucht, gepflegt und nach Möglichkeit repariert werden können.
Die Ausstellung wird durch ein umfassendes Veranstaltungsprogramm sowie eine Publikation (Hsg. HfG-Archiv/Museum Ulm, Christiane Wachsmann, avedition, Softcover mit Klappen, 128 Seiten, mit Beiträgen von Jens Soetgen, Cornelia May, Eva von Senkendorff, Viktoria Lea Heinrich, Christiane Wachsmann, zahlreiche Abbildungen, 24 €, ISBN 978-3-89986-400-7) begleitet
Am Hochsträß 8
89081 Ulm