Das EU-Forschungsprojekt »Beyond Matter. Cultural Heritage on the Verge of Virtual Reality« erarbeitet Möglichkeiten, wie vergangene Ausstellungen durch Methoden der digitalen und räumlichen Modellierung wieder erfahrbar werden können. »Matter. Non-Matter. Anti-Matter.« zeigt ab dem 02. Dezember 2022 im ZKM | Karlsruhe den aktuellen Stand des Forschungsprojektes. 

Anhand der Fallstudien »Les Immatériaux« (Centre Pompidou, 1985) und »Iconoclash. Jenseits der Bilderkriege in Wissenschaft, Religion und Kunst« (ZKM, 2002) untersuchen das ZKM | Karlsruhe und das Centre Pompidou Paris Möglichkeiten der Wiederbelebung von Ausstellungen durch erfahrungsorientierte Methoden der digitalen und räumlichen Modellierung. Zentral ist dabei auch die Frage nach der besonderen Materialität des Digitalen.

Über die Erkundung der Schnittpunkte von Kunst, Wissenschaft und Technologien wollte die Pariser Ausstellung »Les Immatériaux« die postmoderne Transformation der Welt durch die wachsende Präsenz neuer Technologien in allen Lebensbereichen thematisieren. Die Ausstellung »Iconoclash« des ZKM | Karlsruhe richtete den Blick auf das Thema der Repräsentation und ihre vielfältigen Ausdrucksformen sowie die gesellschaftlichen Turbulenzen, die es hervorruft. 

»Matter. Non-Matter. Anti-Matter.« stellt nun im 21. Jahrhundert die digitalen Modelle der beiden Projekte auf dem Immaterial Display vor, einer speziell für die Erkundung virtueller Ausstellungen entwickelten Hardware. Außerdem knüpfen neu geschaffene künstlerische Arbeiten an die 3D-Modelle der beiden vergangenen wegweisenden  Ausstellungen an: Carolyn Kirschner produzierte als eine von fünf Künstler:innen ihre Videoarbeit im Rahmen des »Beyond Matter«- Artist Residency Programms. In ihrer Arbeit hinterfragt Kirschner den Zusammenhang von Kunst, Fetisch, Genuss und Erfahrung. 

Die im Rahmen des »Beyond-Matter«-Projekts erstellten Fallstudien und Anwendungsbeispiele digitaler kuratorischer Konstruktions- und Rekonstruktionstechniken ergänzen die Präsentation.

Ansätze zur digitalen Modellierung vergangener Ausstellungen
Diese Ausstellung zeigt 3D-Modelle zweier wegweisender Ausstellungen, die in dem Projekt Beyond Matter als Fallstudien dienten. Die  experimentellen Ansätze von »Iconoclash« (ZKM | Karlsruhe, 2002) und »Les Immatériaux« (Centre Pompidou, Paris, 1985) für die Vermittlung und Präsentation von Kunst gelten in der Kunstgeschichte als Pionierarbeit.

Das 3D-Modell von »Les Immatériaux« ermöglicht es den Besucher:innen, die ehemalige Szenografie als virtuellen Raum zu erleben. Es fängt das Wesen der Ausstellung ein und verleiht ihr eine zusätzliche Ebene der Immaterialität. Die visuelle Erscheinung der in der virtuellen Nachbildung gezeigten Exponate hängt vom aktuellen Stand der  Forschung ab, der auf dem noch verfügbaren Archivmaterial basiert: Die Exponate scheinen mehr oder weniger durchsichtig, je nachdem, ob ihr genaues Aussehen und ihr genauer Standort bekannt sind oder nicht. Ist beides dokumentiert, wird das Exponat in transparentem Weiß dargestellt, ist der Standort unbekannt, erscheint es in  halbtransparentem Schwarz. Gegenstände, von denen nur der Titel bekannt ist, werden durch schwarze Quadrate repräsentiert. Das 3DModell ergänzt das Archivmaterial um eine weitere Informationsebene und schlägt damit eine Brücke zwischen dem Physischen und dem Virtuellen. Eine exakte Reproduktion der ehemaligen Ausstellung war nicht möglich, denn Les Immatériaux basierte auf einem multisensorischen, interaktiven Konzept und bestand aus 61 Stationen, von denen einige den Geruchssinn ansprachen, etwa die Station Arôme simulé [simulierter Duft]. Das 3D-Modell ist eine Nachbildung der sechsten Etage des Centre Pompidou in Paris, einschließlich aller Trennwände, und vermittelt ein Verständnis der Architektur und  Atmosphäre des Raums.

Auf dieselbe Art und Weise überführt auch die digitale Szenografie des 3D-Modells von Iconoclash das ursprüngliche kuratorische  Konzept in den virtuellen Raum. Die Darstellung ist durch eine  fließende Dynamik gekennzeichnet, die das Einfrieren von Ausstellungsansichten verhindert und so eine Ausstellung ohne räumliche Begrenzung entstehen lässt. Die digitale Interpretation ist eng mit dem ursprünglichen Ausstellungskonzept der Kuratoren und des  Ausstellungsarchitekten verbunden. Mit dem 3D-Modell der Ausstellung wird ihre potenziell dynamische Räumlichkeit ins Digitale übertragen. Auch hier ging es nicht darum, einen „digitalen Zwilling“ – eine virtuelle Kopie einer vergangenen Ausstellung – zu schaffen, sondern vielmehr um ein Erlebnis, indem die Exponate in ständiger Bewegung sind. Interviews mit den Kuratoren und Organisator:innen sowie Archivmaterial dienten als Grundlage für die Entwicklung des digitalen Konzepts von Iconoclash.

Nach der Ausstellung im ZKM wird eine Neuauflage von »Matter. Non-Matter. Anti-Matter.« von Mai bis Juli 2023 im Centre Pompidou in Paris zu sehen sein.