Im Rahmen der diskursiven Plattform „More than Human“ starten am 2. Mai 2024 zwei Projekte im Berliner Kunstgewerbemuseum: Die aus zwei Teilen bestehende, experimentelle Ausstellung „Imagine Coral Reef. Regenerative Design“ widmet sich den komplexen Ökosystemen der Korallen und entwickelt daraus Leitlinien für eine regenerative Designkultur der Zukunft. Zeitgleich zeigt die neu eingerichtete „Spekulative Wunderkammer“ Objekte aus den Sammlungen des Kunstgewerbemuseums mit Leihgaben aus dem Naturkundemuseum sowie zeitgenössischen Design-Projekten.
Coral Reef Room
Korallen gelten mit ihrer faszinierenden Artenvielfalt als „Regenwälder der Meere“, doch werden sie durch den vom Menschen verursachten Klimawandel zunehmend belastet, sodass sie in naher Zukunft zu verschwinden drohen. Das Ziel des Ausstellungsprojekts ist es, die Logik der Natur auf Designprozesse zu übertragen und damit Leitlinien für regeneratives Design zu etablieren.
Der vom österreichischen Designbüro EOOS gestaltete „Coral Reef Room“ ist ein immersiver, szenischer Raum, in dem Makrokorallen, basierend auf dem Open Design Projekt "Crochet Coral Reef" von Christine und Margaret Wertheim (Institute for Figuring), die Besucher*innen in ein Riff mit Korallenbleiche führt. In diesem Zustand zwischen Tod und Überleben beginnen manche Korallenarten im UV-Licht zu fluoreszieren. Die handgeknüpften Korallenobjekte bestehen aus 30 Kilometer eigens von EOOS angefertigten Papierstreifen. Sie sind aus natürlichen Ressourcen, modular, leicht zu reparieren und flexibel. Die Form ergibt sich als Ergebnis der natürlichen Wachstumsmuster von hyperbolischen Flächen und nicht etwa aus einer künstlerischen Vorstellung. Die Gestaltung greift auf natürliche Prinzipien auch im Beleuchtungskonzept mit UV-Licht zurück. Wie in der Natur aktiviert die spezielle Lichtwellenlänge Materialien, die selbstleuchtend erscheinen und somit energiesparender kommunizieren, als wenn sie konventionell mit Strahlern beleuchtet werden würden. Der Korallentisch im Regenerative Design Lab wird durch Mikrostrahler beleuchtet, die sich nur bei Annäherung einschalten und somit ein energiesparendes, interaktives, spielerisches Ausstellungsszenario schaffen.
EOOS ist ein Designstudio, das in den Bereichen Möbel/Produktdesign und Social Design arbeitet. Die drei Partner Martin Bergmann, Gernot Bohman und Harald Gründl leiten das Studio seit seiner Gründung 1995. EOOS/Social Design ist ein „Verified Social Enterprise” das von Lotte Kristoferitsch und Harald Gründl geleitet wird. Die Projekte finden im Bereich WASH (Water, Sanitation and Hygiene) für Projektpartner wie die Bill & Melinda Gates Foundation, dem Roten Kreuz oder der Helvetas Stiftung, im globalen Süden statt: www.eoos.com
Regenerative Design Lab
Im Rahmen der begleitenden Ausstellungsforschung hat das Institute of Design Research Vienna (IDRV) „Spielregeln“ für regeneratives Design entwickelt. Basierend auf den Überlegungen des deutschen Biologen und Philosophen Andreas Weber (*1967) werden die in seinem Buch „Enlivenment“ beschriebenen Leitlinien für die wechselseitige Produktivität in der Natur zum Ausgangspunkt von sieben Prinzipien im Design. Diese sind in einem Manifest, den „Coral Reef Regenerative Design Principles (V1.0)“ zusammengefasst.
Sieben Exponate stehen jeweils für ein Designprinzip, das sie beispielhaft repräsentieren. Die Objekte sind sicher erst Meilensteine am Weg in eine regenerative Designkultur und haben ihre Stärken und Schwächen. Sie sollen Besucher*innen aber dazu anregen, die Lösungen weiterzudenken und auf andere Designbereiche zu übertragen. Die Projekte spannen einen weiten Bogen zwischen individuellem Kunsthandwerk und der industriellen Produktion eines Global Players. Das Einbeziehen nicht menschlicher Akteur*innen ist ebenso Thema wie die Nutzung natürlicher Rohstoffe oder lokaler Wissensnetzwerke.
Für eine gelingende Zukunft sind radikal andere Designprozesse gefordert. Anstelle eines menschenzentrierten Designzugangs braucht es eine holistische Gestaltung der Mensch/Natur-Beziehung (Posthumanismus). Designteams sind daher zukünftig anders zusammengesetzt und berücksichtigen und verhandeln auch die Rechte und Bedürfnisse nichtmenschlicher Akteur*innen in einem Prozess der Ko-Evolution. Die natürliche Vielfalt der Natur entsteht andauernd neu aus einer gleichbleibend großen Biomasse, die im Kreislauf geführt wird. Die Menschheit hat innerhalb des industriellen Zeitalters etwa gleichviel menschgemachte Masse angesammelt und damit die planetaren Grenzen weit überschritten. Die sieben regenerativen Designprinzipien sollen dazu beitragen, einen Weg aus der Krise des Designs zu finden.
Das Institute of Design Research Vienna (IDRV) wurde im Frühjahr 2008 mit dem Ziel gegründet, einen unabhängigen, wissenschaftlich geprägten Beitrag zur Etablierung des neuen Feldes der Designstudien zu leisten. Als wissenschaftliche Non-Profit-Organisation soll das IDRV die interdisziplinäre und disziplinäre Auseinandersetzung mit konkreten Fragestellungen der weltweiten Design-Community fördern, insbesondere in den Bereichen ökologisch und sozial nachhaltiges Design sowie Designgeschichte und -lehre: www.idrv.org
Spekulative Wunderkammer Set #1
Im Rahmen des „More than Human“-Projekts soll das Konzept der Kunstund Wunderkammer reaktiviert werden, um Objekte aus den Sammlungen des Kunstgewerbemuseums mit Leihgaben aus anderen Museen sowie zeitgenössischen Design-Projekten, Prototypen, Artefakten oder künstlerischen Interventionen in einen neuen Dialog zu stellen. Die Renaissance der musealen Kunst- und Naturalienkabinette kann dazu beitragen, die Grenzen von Fachdisziplinen und die damit zusammenhängende Fragmentierung zu überwinden und in Anknüpfung an die historischen Ideale wieder zu einer ganzheitlichen Sicht auf den Planeten Erde zu gelangen.
Verknüpft mit einer „More than Human“-Perspektive können zeitgenössische „Wunderkammern“ zu einem Experimentalraum werden, in dem wichtige Themen wie Biodiversität, Ökologie, das Anthropozän und die Rechte nicht-menschlicher Wesen verhandelt und die vielschichtigen Beziehungen zwischen Menschen, nicht-menschlichen Akteur*innen und der Umwelt erkundet werden.
Inspiriert durch das Thema des Korallenriffs werden im Set#1 der spekulativen Wunderkammer Exponate aus der Sammlung des Kunstgewerbemuseums mit einem speziellen Fokus auf den maritimen Welten gezeigt. Dabei reicht der Bogen von klassischen Kunstkammer-Objekten wie Nautilus- oder Turboschnecken-Pokalen, Korallenbäumen oder mit Perlmutt besetzten Gefäßen über Glas- und Keramikobjekte des Jugendstils, der die Tiefsee als künstlerische Inspirationsquelle neu entdeckte, bis hin zu zeitgenössischen Glasobjekten oder Schmuck. Diese Objekte treten in einen Dialog mit Leihgaben aus dem Museum für Naturkunde, darunter mehrere Jahrtausende alte Amoniten sowie verschiedene Korallenarten. Die Designforscherin Rasa Weber greif das Thema des Korallensterbens in ihrem experimentellen Projekt „Kiki“ auf. An der Schnittstelle von Meeresbiologie, Anthropologie und Design erforscht sie das Konzept des Sympoïetic Design mit menschlichen, tierischen und mikrobiellen Akteuren im Ozean. Animationsfilme aus dem Projekt „Tales of Nature. Material Cultures“, die in der Raumklasse von Gabi Schillig an der UDK Berlin entstanden, erweitern die Wunderkammer in den virtuellen Raum.
„Spekulative Wunderkammer Set #1“ wird kuratiert von Claudia Banz, Kunstgewerbemuseum.
„Imagine Coral Reef. Regenerative Design“ wurde vom österreichischen Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten initiiert.
Öffnungszeiten:
Mittwoch - Freitag: 10:00 - 17:00 Uhr
Samstag - Sonntag: 11:00 - 18:00 Uhr
Montag - Dienstag: geschlossen
Weitere Informationen direkt unter: smb.museum