Unter spolia/dt. Spolien versteht man Überreste aus älteren Bauten, die in neuen Bauwerken wiederverwendet werden. Als Überbleibsel einer meist vergangenen Kultur zeugen sie von einer fernen Zeit. Damit sind Spolien auch transkulturelle Objekte, weil sie eine fremde Kulturerrungenschaft in die eigene verwandeln. In den Skulpturen von Myriam Schahabian fällt dem Phänomen Spolie eine vielschichtige Bedeutung zu.

Die Künstlerin erweitert das Repertoire von Baufragmenten um das tradierte Bild und Wort der eigenen Herkunftskultur. In der Ausstellung setzen sich Skulpturen aus Steinzeug im Einklang mit einzelnen Reliefplatten an der Wand zu einer Landschaft aus Spolien der persischen Kultur zusammen. In Zeiten des gesellschaftspolitischen Umbruchs im Iran wird das aus Überresten der Vergangenheit zusammengefügte Gesamtwerk zu einer Mind-Map der Gegenwart. Die Arbeiten gehen unterschiedlichen Fragen nach: Welche eigenständige Bedeutung erlangen tradierte Motive aus der persischen Architektur, der Miniaturmalerei, dem Kunsthandwerk oder der Schriftkunst, wenn sie aus ihrem einst ornamental-dekorativen Verbund herausgelöst werden? Welche Rolle spielen diese Identität stiftenden Relikte in einem islamischen Gottesstaat, dessen säkulare Bevölkerung sich zunehmend von einem religiös fundamentalistischen Regime distanziert? Verwandeln sich diese Spolien fern vom Iran zu einem Teil des persönlichen Erinnerungsarchivs?

Zu den präsentierten Objekten gehört die zweiteilige Arbeit „Punkt für Punkt, Falte für Falte". Das Figurenpaar greift ein wiederkehrendes Motiv im Muster des persischen Seidensamts aus der Sammlung der „Karlsruher Türkenbeute“ auf: Ein vornehm gekleideter Jüngling begegnet einem knienden älteren Mann mit bittend ausgestreckter Hand. In den Figuren treffen Anmut und Jugend auf Armut und Alter. Dem sichtbaren Bildinhalt liegt eine mystisch-religiöse Bedeutungsebene zugrunde. Zentrales Motiv ist die innigste Andeutung der Liebe zu Gott und damit die Haltung des Liebenden zum unerreichbar Geliebten. Trotz dieser eng mit der Geisteswelt des islamischen Sufismus verbundenen Thematik bleibt das Bildmotiv wie sämtliche Wendungen in der klassischen Dichtung, Literatur und Musik Persiens mehrdeutig. Nur vordergründig Religiöses durchzieht in den Künsten Themen, die um philosophisch-mystische Selbsterkenntnis, Genuss, Schönheit und homoerotische Liebe kreisen.

Myriam Schahabian überträgt das Bildmotiv eines ungleich scheinenden Paars erstmals ins Skulpturale. Sie schenkt den Figuren eine körperhafte Präsenz, die dem islamischen Weltverständnis fremd ist. Versatzstücke aus der persischen Kultur kommen hinzu: In der gefächerten Wandung der Keramik werden komplexe, kunstvoll ausgebildete Bauelemente der persischen Architektur, sogenannte Moqarnas, zitiert. Der schwarze Druck wiederholt Auszüge aus der um 1260 entstandenen berühmten Schrift „Kosmographie des Qazw?n?“. Der Titel der Arbeit sowie die rote Kalligraphie, die die Figuren überzieht, sind Zitate aus einem Gedicht von Zarrin T?j Baragh?ni. Die Lyrikerin war im Iran des frühen 19. Jahrhunderts eine Vorkämpferin der Frauenrechte. Berühmt wurde die unter dem Pseudonym Qurrat al-?Ain bekannte Lyrikerin für ihr unverschleiertes und charismatisches Auftreten in der Öffentlichkeit. In der iranischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts stellte dies – nicht anders als heute unter der Islamischen Republik Iran – einen Tabubruch dar und endete mit ihrem gewaltsamen Tod.

Die Spolien aus Malerei, Bau- und Schriftkunst setzen sich in den Skulpturen Myriam Schahabians zu einer neuen Kunstform zusammen. Das Werk fordert die Wahrnehmung der Betrachtenden zu einem reizvollen Spiel im Dialog zwischen den Kulturen heraus – unter anderem mit einer Objektgruppe, deren motivische Vorlage einem persischen Samtgewebe des Badischen Landesmuseums entspringt. Einst kam der Samt als begehrtes Handelsgut der Safawiden (1501-1722) vom Iran ins Osmanische Reich (1299-1922) und gelangte dann im frühen 18. Jahrhundert als Beute vom „Türkenfeind“ ins Badische. Die verschlungenen Wege dieser textilen Spolie wiederholen sich in der Vita der Künstlerin selbst: Jahrhunderte später begegnen sich die Werke fern ihres Herkunftsorts zur selben Zeit im selben Raum – im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe.

Zur Person
Myriam Schahabian (geb. 1965) wuchs als Tochter einer Deutschen und eines Iraners in Teheran auf. 1981 migrierte sie nach Deutschland. Die Karlsruher Künstlerin absolvierte in den 1980er-Jahren ein Bildhauerstudium in Bologna und beendete dieses 1993 in Stuttgart. Im gleichen Jahr folgte ein Studienaufenthalt im Iran. Seitdem ist sie als Freischaffende Künstlerin tätig und mit Werken in Einzel- und Gruppenausstellungen vertreten