Die Frage, ob es Besonderheiten zeichnerischer Arbeit im kreativen Schaffensprozess von Architekten und Planern in der DDR gab, mag naheliegen, dürfte aber beim alleinigen Betrachten einzelner Bilder kaum zu neuen Erkenntnissen führen. In den Jahrzehnten einer spezifischen DDR-Architektur, bis Mitte der 1980er Jahre, wurde in ostdeutschen Planungsbüros mit den weltweit üblichen Arbeitsutensilien gearbeitet. Wie überall waren die Talente unterschiedlich verteilt, jedes Entwurfskollektiv hatte seinen besonders begabten „Zeichenfuchs“, der für wichtige Projektpräsentationen oder Wettbewerbseinreichungen die entscheidenden Visualisierungen einer Entwurfsidee lieferte. In dieser Hinsicht ließe sich anhand ausgewählter Schaublätter aus verschiedenen Jahrgängen und Regionen vielleicht eine Stilgeschichte über vier Jahrzehnte DDR- Architektur bebildern.
Doch die Nahsicht unter den beteiligten Zeitgenossen lässt noch eine andere Bilderwelt aufscheinen. In der ging es um Träume, Visionen, utopische Hoffnungen, auch tröstliche Selbstvergewisserung. Das Fach Freihandzeichnen wurde an den drei Architekturfakultäten der DDR intensiv gepflegt. Nicht wenige Absolventen haben später mit privatem Bildschaffen ihr berufliches Pflichtprogramm ergänzt, aufgefrischt, konterkariert. Oder sich schlicht mit Kreide, Stift und Pinsel vom Stress oder allzu banaler Routine des Büroalltags erholt. Die Lust an frei entwickelten Gestaltideen wurde in verwegenen Wettbewerbsentwürfen oder als Zeichnung, Grafik, Aquarell usw. freikünstlerisch ausgelebt. Es sollte also von besonderem Interesse sein, die zeichnerische Betätigung von Architektinnen und Architekten in der DDR (die nicht mit der „Papierarchitektur“ in der späten Sowjetunion zu vergleichen ist) in ihrem Unterschied zum jeweiligen Auftragsschaffen zu betrachten.
Zeichnen als Freizeitgenuss ist eine Leidenschaft von Architektinnen und Architekten weltweit. Doch im auffälligen Kontrast zwischen dem bautechnischen Alltagsgeschehen und der zu Papier gebrachten „Wunschproduktion“ kreativer Entwerfer lässt sich der Blick auf die Baugeschichte der DDR um eine bisher wenig beachtete Facette bereichern. Manche Städte leisten sich Bücher oder Ausstellungen über ihre unrealisierten Bauprojekte. In dieser Ausstellung werden die Konturen einer „erträumten Baugeschichte der DDR“ sichtbar.
In den zwei Ausstellungsebenen der Tchoban Foundation in Berlin wird die Möglichkeit geboten, das Thema von beiden Seiten kennenzulernen: Markante Zeichnungen, die für konkrete Bauaufgaben in unterschiedlichen Phasen der DDR-Baugeschichte entstanden, werden spannungsvoll kontrastiert mit privaten Zeichenblättern, die oft über ganz anders gelagerte Visionen und Reflexionen Auskunft geben: hier Auftragsbilder, da Wunschproduktion!
Für die Präsentation von circa 140 Zeichnungen wird in großem Umfang auf die reichhaltigen Bestände der Wissenschaftlichen Sammlungen des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner bei Berlin zurückgegriffen, des wichtigsten Archivs für die Architekturgeschichte Ostdeutschlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus werden Zeichnungen aus anderen Archiven und Museen sowie aus Privatbesitz gezeigt.
Die Ausstellung wird inhaltlich von zwei Kuratoren verantwortet, dem Historiker Dr. Kai Drewes, Leiter der Wissenschaftlichen Sammlungen des IRS, und dem bekannten Berliner Architekturkritiker und Publizisten Wolfgang Kil.
Es erscheint ein Katalog, der sämtliche Exponate dokumentiert und dazu erhellend Einblicke in die spezifische Arbeitswelt von Architektinnen und Architekten in der DDR gibt.
Christinenstraße 18A
10119 Berlin