Olho da Rua [Out Loud] ist die erste Einzelausstellung des brasilianischen Künstlers Jonathas de Andrade in einer deutschen Institution. 2022 bespielte er den brasilianischen Pavillon auf der 59. Venedig Biennale, im selben Jahr entstand sein Film Olho da Rua [Lautstark], der im Zentrum der Ausstellung steht. In seinen Installationen, Fotografien und Videos beschäftigt er sich mit Machtdynamiken und Konflikten, insbesondere im Nordosten Brasiliens sowie in Recife, wo er lebt und arbeitet. Dabei spielen die Folgen von Kolonialismus, Sklaverei und modernistischer Kultur auf die brasilianische Gesellschaft eine entscheidende Rolle. Mit Olho da Rua [Out Loud] setzt die Kunsthalle Münster, ausgehend von ihrer Verantwortung für die Kunstwerke im öffentlichen Raum im Besitz der Stadt Münster, ihre Auseinandersetzung mit den Fragen von Kunst und Öffentlichkeit in der Stadthausgalerie fort.

In de Andrades Film Olho da Rua [Lautstark] trifft das Theater der Unterdrückten Augusto Boals auf die Straßen von Recife, wobei der öffentliche Raum als ein Ort der Gemeinschaft und Agitationsraum in Erscheinung tritt. Für den Künstler bedeutet der öffentliche Raum einen Ort großer Kraft und Energie, einen Ort für Begegnungen, Partys, Proteste und intime Gespräche. Die Straße kann lebendig sein und zugleich ein Zufluchtsort für Menschen, die keinen anderen Raum haben als den öffentlichen.

Für seinen Film hat de Andrade eine temporäre Gemeinschaft von Obdachlosen porträtiert, die im Stadtzentrum von Recife leben, die an einer Reihe von Ubungen teilnahmen, die vom Theater der Unterdrückten inspiriert sind. Dieses wurde in den 1970er Jahren von dem brasilianischen Theoretiker und Aktivisten Augusto Boal entwickelt und konzentriert sich auf das politische Potenzial der Teilnehmerinnen sowie darauf, deren Leben durch aktive Beobachtung, kollektives Brainstorming und ungeschriebenen Ausdruck neu zu gestalten und zu verändern. Das Theater der Unterdrückten ist eine Methodenreihe, die Kunst und Selbsterfahrung mit politischem Probehandeln kombiniert. Es bietet viele Chancen, im Alltag oft unterdrückte oder vernachlässigte soziale und kommunikative Ressourcen in der spielerischen, ästhetischen und theatralen Begegnung von Menschen zu aktivieren. Dabei ist der Dialog im Zusammenspiel zentraler Bestandteil. Nicht der die Regisseurin bestimmt die Inhalte der Szenen, sondern die Teilnehmenden.

In acht Akten inszeniert de Andrade eine Reihe von performativen Handlungen, die sich auf kollektive Dynamiken und die Ausübung des Blicks an öffentlichen Orten konzentrieren. An der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation werden die Akteurinnen durch ihre Handlungen und Worte in Debatten über Identität, Fürsorge, Familie, Klassenbewusstsein sowie soziale und politische Sichtbarkeit verwickelt. Entstanden ist der Film während der Pandemie und der Regierungszeit von Jair Bolsonaro, einem fragilen Moment in der brasilianischen Demokratie. Aufgrund zahlreicher gesellschaftlichekund wirtschaftlicher Entwicklungen nahm die Obdachlosigkeit auf den Straßen in dieser Zeit von Tag zu Tag zu und die betroffenen Menschen hatten keinen Zugang zu Masken, Lebensmitteln oder Impfstoffen, während der Präsident die Wirksamkeit der Impfstoffe leugnete.

Der öffentliche Raum des Praça do Hipódromo wird zur Bühne für die Darstellerinnen mit ihren eigenen Geschichten, ihren eigenen Körpern samt all ihrer Erfahrungen. Jenseits des Drehbuchs geben die Bilder Einblicke in die jeweilige Persönlichkeit und Gefühlswelt der Akteurinnen und stellen ein kraftvolles Zeugnis des zeitgenössischen Brasiliens mit seinem reichen Multikulturalimus und seinen strukturellen Ungleichheiten dar.

In dem Film erhält die Bevölkerungsgruppe der Obdachlosen - in Brasilien als „pessoas em situacao de rua" (Personen in einer Straßensituation) bezeichnet - die Möglichkeit, ihre eigenen Geschichten zu schreiben. Auch wenn es Geschichten von Menschen sind, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt und unsichtbar gemacht werden, so werden sie in de Andrades Film nicht als sozial schwache Personen dargestellt, sondern es ist ihm gelungen, einen Raum der Selbstermächtigung zu schaffen.

Der öffentliche Raum erscheint als Lebensraum, an dem sich gesellschaftlich und politisch organisiert wird, als Ort von Entbehrungen und Entrechtungen, aber auch als Umfeld, auf den Menschen einen Anspruch haben und den sie sich nehmen. Die Idee, dass Theater, Kunst und radikale pädagogische Mittel soziale Artikulationen in Richtung Autonomie und politischem Bewusstsein sein können, ist hier mehr als nur ein Ausgangspunkt. Indem eine Rolle gespielt wird, die mit dem eigenen sozialen Platz zu tun hat, kann die Art und Weise, wie die persönliche Geschichte verstanden wird, neu artikuliert werden, wodurch Innen- und Außenperspektive miteinander verschmelzen.

De Andrade hebt für seine filmische Praxis hervor: „Ich glaube, dass Kunst ein Katalysator für Empathie ist und dass aus der Artikulation unwahrscheinlicher Begegnungen Filme gemacht werden können, und dass dies auf ethisch verantwortliche Weise geschehen kann, auch wenn es eine große Herausforderung ist."

Begleitet werden die Bilder von Olho da Rua [Lautstark] von einem hypnotischen Soundtrack des Perkussionisten Homero Basílio, der Instrumente verwendet, die ihre Wurzeln im Nordosten Brasiliens haben. Sie betonen und übersteigern die Szenen, die Geschichten, die sich offenbaren, die Rollen, die gespielt werden, die Nutzung des Platzes, die sich vollzieht, die Formatierung der Gruppe, die passiert.

In der Stadthausgalerie wird der Film durch die neugeschaffene Installation Arvore do Teatro do Olho da Rua [Theaterbaum des Auges der Straße] des Künstlers ergänzt. Diese bezieht sich auf das Schaubild eines Baumes, das gleich zu Beginn des Filmes zu sehen ist und nicht nur die Bestandteile eines Hauses aufgreift, sondern in den Wurzeln auch Begrifflichkeiten aufführt, die mit dem Leben auf der Straße verbunden sind. Etwas das nicht so sehr im Verborgenen liegt, sondern oftmals nicht adressiert wird, tritt einem entgegen. Jedes der Worte gibt Anlass über Situationen und Begegnungen auf der Straße nachzudenken, sich mit all jenem zu beschäftigen, dem man ausgesetzt ist, wenn man keine Möglichkeit hat, sich nicht in die eigenen vier Wände zurückzuziehen.

Das Zusammenspiel der beiden Werke fördert den Anspruch, die Realität kollektiv zu überdenken, sich Alternativen vorzustellen und vielleicht wieder in den öffentlichen Raum hinaus- und die Gemeinschaft hineinzutragen.

Jonathas de Andrade (geb. 1982 in Maceió, Brasilien) lebt und arbeitet in Recife, Brasilien. Er entwickelt Videos, Fotografien und Installationen, die auf der Produktion von Bildern und Texten beruhen, wobei er Strategien einsetzt, die Fiktion und Realität, Tradition und Verhandlung mit lokalen Gemeinschaften einander gegenüberstellen.

Ausgehend von den Interessen des Künstlers an sozialen Fragen, beziehen seine Arbeiten die Felder der Sprache und Anthropologié als Aspekte mit ein, die den Begriff der Wahrheit, der Macht, des Begehrens und des sozialen Imaginären in Frage stellen. Einzelausstellungen waren Jonathas de Andrade: Eye-Spark, Maat, Lissabon (2023) und Crac Alsace, Frankreich (2022); Pounce and Bounce, Pinacoteca de São Paulo (2023); In the hangover city, Mamam, Recife (2023); Staging Resistance, Foam Amsterdam (2022); One to One, Museum of Contemporary Art Chicago (2019); The Fish, New Museum, New York (2017); The Power Plant, Toronto (2017); Visiones del NordAste, Museo Jumex, Mexico City (2017); Museu do Homem do Nordeste, MAR: Museum of Art, Rio de Janeiro (2014-2015). Zudem nahm er an Gruppenausstellungen wie der 16. Istanbul Biennale (2019); Artapes, MAXXI: National Museum of XXI Century Arts, Rom (2018); 32. Sao Paulo Biennale (2016); Unfinished Conversations: New Work from the Collection, The Museum of Modern Art MoMA (2015); und Under the Same Sun: Art from Latin America Today, Guggenheim Museum, New York (2014) teil. 2022 bespielte Jonathas de Andrade den brasilianischen Pavillon auf der 59. Venedig Biennale.


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