Auf der großen Lichtterrasse im zweiten Obergeschoss des MdbK hat die deutsch-italienische Künstlerin und Filmemacherin Rosa Barba (*1972) die ortsspezifische Arbeit Under the Canopy installiert. Barba verwandelt die – mit einer Fläche von 300 m² und einer Raumhöhe von 17 m – größte Terrasse des MdbK in eine projizierende Kamera. Dafür hat die Künstlerin mundgeblasene bunte Glasscheiben in ein schwebendes Gitter eingelassen. Maße und Untergliederungen der Gitterflächen sind proportional an dem gebauten Raum orientiert. Auf diese Weise erhält die Terrasse in etwa vier Metern Höhe eine Art zweite Decke: Es entsteht ein Raum im Raum, der sich transparent auf ein Dahinter und Darüber öffnet. Zugleich fällt das Sonnenlicht durch die Glasfronten der Installation und zeichnet sich auf Boden und Wänden ab. Die Terrasse wird wie ein riesiges Objektiv erfahrbar, das Licht sammelt und es in den Raum projiziert. Durch diesen monumentalen fotografischen Vorgang erhält Zeit eine Gestalt.
Aktiviert durch die Sonne wird die Architektur in den performativen Akt einbezogen: Je nach Stand und Intensität des Sonnenlichts sind die Flächen im Raum in Bewegung, die Lichtzeichnung ereignet sich je nach Tages- und Jahreszeit aufs Neue. Die Besucher*innen nehmen durch ihre Position innerhalb dieses Zeit-Raumes am Prozess der ‚Verräumlichung‘ von Zeit teil. Das oft unbemerkte Raum-Zeit-Gefüge wird so erfahrbar und ins Bewusstsein gesetzt.
Rosa Barba thematisiert zugleich eine fundamentale Verschiebung: Während digitale Räume zunehmend unsere Wahrnehmung bestimmen, bleiben Raum und Zeit eindeutig physische Erfahrungen. So betont die Künstlerin die Relevanz der analogen menschlichen Existenz in einer digitalen Welt.
Seit den 1990er Jahren setzt sich Rosa Barba mit der Interaktion von Film und Architektur, letztlich also mit Wahrnehmungsbedingungen, auseinander. Indem sie die fiktive Projektion mit dem realen, physischen Ort zu einem Erfahrungsraum vereint, erschafft sie neue narrative Möglichkeiten. In früheren Werkphasen entstanden dabei mechanische Objekte, die Informationen in Echtzeit generieren und in ihren neuen Formen die Bedingungen des Kinos hinterfragen. In Weiterentwicklung dieses Ansatzes verbindet Barba in aktuellen Arbeiten theoretische Überlegungen zu Astronomie und Kino. Dabei geht es u. a. um Konzepte von Licht, Zeit und Entfernung. Die Theorien der Astronomie und des Kinos eröffnen für sie auf je eigene Weise neue, spekulative und unstete Räume, die sie mit ihrer Kunst ergründet.
Under the Canopy ist die vierte Position in der Folge der eigens für die große Eckterrasse des MdbK konzipierten Rauminstallationen – nach Chiharu Shiota Internal Line (2021/22), Hito Steyerl The City of Broken Windows (2023) und Sandra Mujinga Fleeting Home (2024/25).
Rosa Barba (*1972 in Agrigent/Sizilien) studierte von 1993 bis 1995 Theater- und Filmwissenschaft an der Universität Erlangen und von 1995 bis 2000 Bildende Kunst und Film an der Kunsthochschule für Medien Köln. Rosa Barba lebt und arbeitet seit 2008 in Berlin. Ihre filmisch-skulpturalen Arbeiten wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten in zahlreichen Biennalen, Einzel- und Gruppenausstellungen international präsentiert, u. a. maltabiennale.art (2024), Biennale di Venezia (2015, 2009), 19. Biennale of Sydney (2014), Museum of Modern Art (MoMa)/New York (2025, 2024), MALI Museum/Lima (2024), Kunsthaus Zürich (2024, 2019, 2012), Tate Modern/London (2023, 2015, 2010). Zur Zeit zeigt das MoMa eine große Einzelausstellung der Künstlerin (Rosa Barba. The Ocean of One’s Pause, bis 6. Juli). Ausstellungen in Deutschland fanden zuletzt etwa bei Esther Schipper/Berlin (2025, 2022, 2021), in der Hamburger Kunsthalle (2024), in der Galerie der Kustodie im Görges-Bau der TU Dresden (2023/24), in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau/München (2023), in der Bundeskunsthalle/Bonn (2022) und in der Neuen Nationalgalerie/Berlin (2021) statt.
Die Künstlerin wurde mit zahlreichen Kunstpreisen ausgezeichnet, etwa mit dem Best Experimental Short Film des South Film and Arts Academy Festival (2021), The Calder Prize der Calder Foundation (2020), dem Prix International d’Art Contemporain der Fondation Prince Pierre de Monaco (2015) und dem Nam June Paik Award (2010). 2024 erhielt sie den Cavaliere dell'Ordine della Stella d'Italia, der für außerordentliche Verdienste um die Beziehungen zwischen Italien und anderen Staaten verliehen wird. Ihre Werke sind Bestandteil bedeutender öffentlicher Sammlungen. Barbas Biografie ist von zahlreichen Residencies geprägt und verzeichnet Lehrtätigkeiten an Bildungsinstitutionen in Europa und Nordamerika.
DAS WERK
Rosa Barba, Under the Canopy, Installation, 2025 Rahmenkonstruktion: Baustahl; mundgeblasenes, einlaminiertes LambertsGlas (4mm) in unterschiedlichen Farben und Größen; Drahtseile, Gesamtmaß der Konstruktion: ca. 880 x 1.100 x 2,5 cm
Katharinenstraße 10
04109 Leipzig