An der Schwelle: Exil zeigt den existenziellen Zustand des Exils als radikale Zäsur und erzwungenen Neubeginn. Die Ausstellung beleuchtet das Verharren im Dazwischen – zwischen Verlust und Neuanfang, Vergangenheit und ungewisser Zukunft. Gezeigt werden Werke, die den physischen Akt der Flucht ebenso wie innere Fragmentierung, Identitätsverlust und die besonderen Bedingungen des künstlerischen Arbeitens in der Fremde erfassen.
Die Ausstellung behandelt das Phänomen der transgenerationalen Traumata, den Wirkungsraum der familiären Erinnerung und Mythenbildungen im Kontext der Diaspora. In jedem der vorgestellten Werke erscheint dabei die Schwelle als zentrales Moment in der künstlerischen Verarbeitung dieser Erfahrungen. Gleichzeitig sind sie aber auch eine Einladung, erzählte Geschichten weiterzutragen.
Zu den Positionen
Die Geschichten der drei Künstler:innen sind radikal persönlich und stark autobiografisch geprägt. Aus unterschiedlichen geografischen, historischen und transgenerativen Perspektiven umkreisen sie das Thema Exil als existenzielle Erfahrung – als Einschnitt in ihrem Leben, als persönliches Erbe, als Menetekel ihrer künstlerischen Praxis.
Moskau, 2022. Die Farbe seiner letzten Arbeit ist noch nicht getrocknet, da beginnt für Sergey Bratkov den Aufbruch ins Ungewisse. Die Angst sitzt ihm im Nacken, gleich klopfen sie an seiner Tür, dann ist es zu spät. Er flieht. In seiner Videoarbeit Nr. wird dieser Zustand spürbar: Das Exil als Chiffre eines inneren Bruchs. Das Ich zerfällt unter der Last eines Systems, das zählt, aber nicht sieht. Die vergebene Nummer markiert keinen Neuanfang, sondern einen Schwebezustand zwischen Sichtbarkeit und Auslöschung – zwischen sozialem Sterben und dem tastenden Versuch, sich neu zu entwerfen. Bratkov macht spürbar, wie sich die Fremdheit in den Körper und die Psyche einschreibt – als Kontrollverlust, als Identitätsverschiebung, als existenzielle Unsicherheit: die Schwelle, hinter der der Abgrund, der Sturz ins Nichts wartet. Doch aus dieser Verwerfung entsteht auch ein Möglichkeitsraum: eine neue Sprache des Selbst.
Das Schiff, die Exodus 47, verließ 1947 Frankreich mit dem Ziel Palästina – eine Fahrt der enttäuschten Hoffnungen. Fast achtzig Jahre später unternimmt Atalya Laufer, die Tochter jenes Jungen, eine subjektiv-poetische (Re-)Konstruktion seines Erinnerungskosmos. Sie macht sichtbar, wie sich das Exil transgenerational auswirkt und im familiären Gedächtnis durch Mythenweitergabe verankert. Damit knüpft sie an eine aktuell wieder sehr dringliche Frage an: Wie geht Erinnern, wenn es kaum mehr Zeitzeug:innen gibt?
Ben Greber richtet den Blick auf die stillen Voraussetzungen des Exils: Er folgt persönlichen familiären Spuren aus der NS-Zeit und hinterfragt in seinen skulpturalen Arbeiten, wie unausgesprochene Prägungen über Generationen hinweg in Denkweisen, Bildern und Selbstbildern fortwirken. Seine Kunst eröffnet eine andere Perspektive: Er begreift Exil als Folge mentaler und gesellschaftlicher Verschiebungen, lange bevor der erste Schritt ins Fremde getan wird.
Skulptur, Fotografie, Malerei, Video und Installation treten in dieser Ausstellung in einen offenen Dialog. Immer wieder stehen wir vor Schwellen: psychischen, sozialen, politischen, metaphysischen, künstlerischen. So erfahren wir ein Gefühl des Dazwischen – ein Zustand an der Schwelle. Auch der Ausstellungsort selbst – ein Verwaltungsbau, der im Nationalsozialismus die Deutsche Arbeitsfront beherbergte – wird Teil dieser Erzählung: Er steht exemplarisch für das historische Echo, das auch gegenwärtige Erfahrungen von Flucht, Erinnerung und Verantwortung prägt.
Diese Ausstellung ist all jenen gewidmet, die von irgendwo nach Nirgendwo aufbrachen, um neu zu beginnen – und jenen, denen dieser Neuanfang verwehrt blieb.
Biografien
Atalya Laufer (*1979 Kibbuz Hazorea, Israel; lebt und arbeitet in Berlin) befasst sich in ihren Zeichnungen, Collagen, Skulpturen und Installationen, die häufig Aneignungen biografischer und/oder kunsthistorischer Materialien sind mit Fragen von Identität, Grenzen und Projektion. Sie erwarb 2005 einen Bachelor of Arts (First Class Honours) in Fine Arts am Central Saint Martins, University of the Arts London, sowie 2012 einen Masterabschluss in Art in Context an der Universität der Künste Berlin. Seit 2020 ist sie Stipendiatin des MAX-Studio-Stipendiums der Stiftung Brandenburger Tor.
Sergey Bratkov (*1960, Kharkiv, Ukraine; lebt und arbeitet in Berlin) ist ein politisch kontextualisierter Künstler, der mit verschiedenen Medien wie Malerei, Fotografie, Installation, Video und Performance arbeitet. Er zählt zu den bedeutendsten Künstlern Osteuropas und vertrat 2007 die Ukraine auf der Biennale in Venedig. Vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine lebte er in Russland und lehrte als Professor an der Rodtschenko-Schule für Kunst in Moskau, wo er zwei Generationen junger Künstler:innen aus ganz Osteuropa prägte. Mit Unterstützung des Artist-at-Risk-Programms kam er 2022 nach Deutschland. 2024 war er Stipendiat des Fellowships Weltoffenes Berlin des Berliner Senats.
Ben Greber (*1979, Halle/Westfalen; lebt und arbeitet in Eberswalde, Berlin) beschäftigt sich in seinen skulpturalen und installativen Arbeiten mit den Auswirkungen technischer Prozesse auf Gesellschaft, Umwelt und Wahrnehmung. Seine Werke untersuchen das Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit menschlicher Eingriffe in einer zunehmend digitalisierten Welt. Greber studierte an der Kunstakademie Münster bei Katharina Fritsch und Ayşe Erkmen. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem GWK-Förderpreis Kunst (2011) und dem Kallmann-Preis (2024).
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