Die Ausstellung Lise Gujer. Eine neue Art zu malen rückt das Werk der Schweizer Textilkünstlerin Lise Gujer (1893 – 1967) in den Fokus.
1922 lernt Lise Gujer den Brücke-Künstler Ernst Ludwig Kirchner im Schweizer Luftkurort Davos kennen. Kurz nach der Begegnung beginnt sie, nach seinen Entwürfen großformatige, frbenreiche Bildteppiche zu fertigen, die Kirchner als „neue Art zu malen“ begeistern. Die farbenprächtigen und bildnerisch komplexen Textilien zeigen die Schweizer Bergwelt mit ihren Tieren und Menschen. Auch dem Thema Tanz sind einige Teppiche gewidmet. Die enge Zusammenarbeit zwischen den beiden hält bis zu Kirchners Suizid 1938 an. Erst 15 Jahre später, Anfang der 1950er-Jahre, setzt Gujer ihre Arbeiten am Webstuhl fort. Sie löst sich weiter von Kirchners Vorzeichnungen und schafft neue Variationen bisheriger Motive.
Ziel der Ausstellung ist es, Gujers Autorinnenschaft in den Vordergrund zu stellen und damit ihren Platz in der Geschichte des Expressionismus anzuerkennen. Nach über 20 Jahren handelt es sich um die erste Präsentation, die sich ihrem Werk widmet. Gezeigt werden 25 Bildteppiche Gujers, sowie die dazugehörenden Entwürfe Kirchners aus der Sammlung des Bündner Kunstmuseums in Chur, die bislang kaum in Deutschland zu sehen waren. Sie treten in Dialog mit Aquarellen, Gemälden und Druckgrafiken aus dem Bestand des Brücke-Museums.
Ergänzt wird die Ausstellung um einen Vermittlungsraum, in dem Techniken und Materialien der Weberei vorgestellt werden. Ein umfangreiches Begleitprogramm eröffnet neue Perspektiven und kreative Zugänge zu den Themen der Ausstellung. So lädt zum Beispiel eine partizipative Webstation des Künstler*innenkollektivs traces zum kollektiven Weben ein.
Biografie und Kontext
Die Ausstellung möchte Lise Gujer als Person und Künstlerin vorstellen, und beginnt aus diesem Grund mit einer ausführlichen Biografie, die von vielen bisher noch nie gezeigten Fotografien aus Familienbesitz ausgeschmückt wird. Auch finden sich hier verschiedene
Ansichten des Luftkurorts Davos, in dem sie Ernst Ludwig Kirchner 1922 kennenlernt. Gujer befreundet sich eng mit dessen Lebensgefährtin Erna Schilling. Kirchner fotografiert und zeichnet die beiden. Mehrere seiner Portraits von Gujer in Öl und als Holzschnitt stehen am Beginn des Rundgangs.
Anfang der Zusammenarbeit
Im nächsten Teil der Präsentation wird die frühe Zusammenarbeit vorgestellt. Ausgestellt ist hier der traditionelle Handwebstuhl, den Lise Gujer 1922 in ihrem gemieteten Bauernhaus im Bergdorf Clavadel, am Eingang des Sertigtals bei Davos, vorfindet. An ihm beginnt sie sich intensiv mit der Weberei zu beschäftigen. Nach der Begegnung mit Ernst Ludwig Kirchner entstehen nach seinen Entwürfen auf diesem Webstuhl größere und aufwendigere Bildteppiche. Die Zusammenarbeit wird in der Ausstellung nachvollziehbar, denn zu Beginn mussten Kirchner und Gujer erst handwerklich und ästhetisch zusammenfinden. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das Werk Menschen in Landschaft, dessen aufwendig farbige Vorzeichnung Kirchner 1923 entwarf. Gujer setzt sie kurz darauf in einen Wandteppich um. Zur ersten Fassung äußert sich der Brücke-Künstler kritisch: Zu wenig farbintensiv sei der Bildteppich und zu unpräzise die Technik. Durch die Sichtbarkeit der hellen Kettfäden, die das Grundgerüst bilden, erscheinen die Farben fahl, die Formen undifferenziert. Erst Gujers zweite Fassung aus den 1950er-Jahren gibt die leuchtenden Farben der Vorzeichnung wieder. Auch sind die Formen nun runder und weicher und die Farbübergänge differenzierter. Die Gegenüberstellung der beiden Textilkunstwerke verdeutlicht Gujers technische Entwicklung und die verschiedenen Stadien ihrer Zusammenarbeit mit Kirchner.
Alpaufzug und Das Leben – Hauptwerke Lise Gujers
Wie meisterhaft sie in den späten 1920er- Jahren die Wirkerei beherrschte, verdeutlicht auch ein Hauptwerk der Ausstellung, der figurenreiche, großformatige Alpaufzug. Er wurde 1926 von Elsa Bosshart-Forrer, der Ehefrau des Dichters Jakob Bosshart, bei Kirchner in Auftrag gegeben. Ursprünglich als Diwandecke gefertigt, zeigt er ein Bildthema, das Kirchner in dieser Zeit öfter darstellt: den Aufzug der Tiere auf die Alp, der im Frühjahr nach der Schneeschmelze in den Bergen stattfindet.
Der Frankfurter Kunstsammler und -mäzen Carl Hagemann sieht den Alpaufzug im Sommer 1927 bei seinem Besuch in Davos. Ursprünglich möchte er dieses Werk von Gujer für seine Villa in Frankfurt ein zweites Mal wirken lassen. Auf Anraten des Künstlers entscheidet sich Hagemann jedoch für einen neuen Auftrag. Das Leben entsteht 1927/28. Zahlreiche Briefe und mehrere Entwurfszeichnungen geben Einblick in den Entstehungsprozess des Lebens und betonen die künstlerische Leistung Gujers.
So schreibt Kirchner in einem Brief an Hagemann: „Die Verantwortung für die Einzelform [trägt] voll und ganz Frl. Gujer. Sie hat sie ganz anders gemacht als ich sie zeichnete, was Sie nachprüfen können, wenn Sie hier die Vorlagen sehen. Auch ich bin durchaus nicht immer mit ihrer Auffassung, die ja sehr durch das Weben bedingt ist, einverstanden. [...] Ich habe immer darauf hingearbeitet, dass Frl. Gujer mit der Zeit selbständig entwirft [...].“
Auch wenn Das Leben aus restauratorischen Gründen nicht für die Ausstellung ausgeliehen werden konnte, ist er durch die Vorzeichnung und eine Fotografie Kirchners präsent. Auch werden einzelne Motive aus Das Leben, die Gujer in ihrer zweiten Schaffensphase in den 1950er-Jahren zu eigenen Bildteppichen ausgearbeitet hat, wie beispielsweise das Bauernpaar oder den Alpaufzug – Lebensalter, in der Ausstellung gezeigt.
Tanz
Ernst Ludwig Kirchner ist ein Künstler, der von seiner direkten Umwelt inspiriert wird. Während ihn in seiner Berliner Zeit das hektische Großstadtleben interessiert, dominieren in den Schweizer Jahren die Berge mit ihren Menschen und Tieren seine Bilder. Ein Motiv, das ihn hingegen sein Leben lang begleitet, ist der Tanz. Die Bewegungen tanzender Körper fängt er sowohl in Dresdner als auch in Berliner Varietés ein. Selbst in den Schweizer Bergen verfolgt er die Entwicklungen des modernen Tanzes weiter. So werden auch in den g meinsamen Arbeiten mit Gujer immer wieder Tänzer*innen gezeigt.
In seinen schnellen Vorzeichnungen fängt Kirchner ihre Bewegung ein. Im Kontrast dazu steht der langwierige Prozess des Webens: Nicht nur dieser benötigt Zeit, sondern auch die komplexe Vorplanung und das aufwendige Einrichten des Webstuhls.
Kirchners Vorzeichnungen werden im Laufe der Zusammenarbeit mit Gujer immer reduzierter und enthalten weniger Vorgaben. So skizziert er etwa 1931 für Pierrot und Colombine – 1. Fassung, nur noch grob die beiden tanzenden Figuren, ohne weitere Vorgaben zu Hintergrund oder Farben. Darin zeigt sich sein Vertrauen in Gujer als eigenständige Ko-Autorin.
Gegenseitige Beeinflussung
Nicht nur Gujer entwickelt ihre Webkunst weiter, sondern auch Kirchner vollzieht Ende der 1920er-Jahre unter Einfluss der Zusammenarbeit mit Gujer einen Stilwandel. In seinem Tagebuch berichtet er angeregt: „Die Weberei hat wunderbare Möglichkeiten und ich lerne viel von ihr. Wie frei kann man die Formen umsetzen“ und sieht später „eine neue Art zu malen möglich werden“.
Kirchner beginnt die Flächigkeit, die abstrakten Formen und das Nebeneinander der Farben der Wirkereien in seine Malerei zu überführen. Diese Schaffensphase des Brücke- Künstlers wird bis heute deshalb auch als Teppichstil bezeichnet.
1923 entsteht das Gemälde Schwarzer Frühling, in dem Kirchner sich und seine Lebensgefährtin Erna Schilling vor der Schweizer Bergkulisse abbildet. Sechs Jahre später überführt Gujer mit Einverständnis des Künstlers, das Ölbild in eine Wirkerei. Es handelt sich um ihre erste gewebte Interpretation eines Gemäldes.
Auf diese erste Fassung von 1929 folgen ab 1952, lange nach Kirchners Tod, weitere Variationen des Motivs, von denen zwei in der Ausstellung zu sehen sind. Es sind eigene und freiere Übersetzungen Kirchner Malerei ins Textile: Alle Versionen bestechen durch die intensive Farbigkeit, klar umgrenzte Formen sowie durch die Abstraktion der Bilddetails.
Vermittlungsraum
Was sind eigentlich Textilien? Wie wird gewebt? Und was ist der Unterschied zwischen Kett- und Schussfäden? Im letzten Teil der Ausstellungen stellt ein Vermittlungsraum die Technik des Wirkens vor und macht sie praktisch erfahrbar. Hier werden Materialien und Skizzen präsentiert, die die Wirkerei veranschaulichen. Zwei Handwebrahmen verdeutlichen, wie ein Bildteppich entsteht, und wie die Technik des Wirkens mit unterschiedlichen Fäden beginnt.
Eine experimentelle Webstation der Künstler*innengruppe traces lädt zudem zum kollektiven Weben ein. Anfassen und mitmachen sind hier ausdrücklich erlaubt! Das Material zum Weben kann selbst gewählt und der Rahmen kann von allen Seiten bearbeitet werden. Das kollektive Gewebe wächst über den Zeitraum der Ausstellung. Traces ist eine experimentelle Plattform mit den Künstler*innen Kathrin Köster, Daniel Kupferberg, Marei Loellmann, Carolin Seeliger und Lee Stevens. In ihrer Praxis erkunden sie gemeinschaftliches Weben als Methode des kollektiven Arbeitens.
Bussardsteig 9
14195 Berlin