„Die Erhaltung der menschlichen Gesundheit, als des kostbarsten Gutes einer Stadt, hat aber alle Verwaltungsmaßnahmen zu beeinflussen.“ (Ernst May)
Das kommunale Wohnungsbau- und Stadtplanungsprogramm Das Neue Frankfurt brachte Frankfurt am Main in den 1920er Jahren den Ruf ein, eine der modernsten Städte Deutschlands zu sein. Da das Programm sein 100-jähriges Jubiläum feiert, beteiligt sich das Museum Angewandte Kunst mit mehreren Ausstellungen an den Feierlichkeiten.
Yes, we care. Das Neue Frankfurt und die Frage nach dem Gemeinwohl widmet sich dabei einem bisher wenig betrachteten Thema: der Frage nach der Bedeutung des Gemeinwohls im Neuen Frankfurt. Welche Institutionen, Initiativen und Konzepte in Bezug auf Bildung, Haushalt, soziale Fürsorge und Gesundheit gab es vor 100 Jahren und welche Auswirkungen hatten sie auf das Alltagsleben der Menschen? Bieten die Ideen und Konzepte des Neuen Frankfurt Anregungen für die Lösung der aktuellen Krise in den Care- und Pflegeberufen? Können sie in Zeiten politischer Polarisierung, des Mangels an bezahlbarem Wohnraum und der Manifestierung von Armut Vorbilder für wirksame Gegenmaßnahmen sein? Mit der Ausstellung Yes, we care. will das Museum Angewandte Kunst das Historische mit dem Aktuellen verbinden, über den Wert einer sozialen Stadtgesellschaft debattieren und positive Impulse geben.
Die Ausstellung präsentiert Objekte, Texte, Fotografien, Film- und Audiobeiträge aus den Bereichen Bildung, Haushalt, Soziales und Gesundheit der 1920er Jahre und verbindet die Erscheinungen mit den aktuellen Erfahrungen sowie Fragen an unsere globale Zukunft.
„Care“ meint Pflege und Fürsorge, aber auch Betreuung, Sorgfalt und Obacht. „Care“ hat eine zwischenmenschliche und zugleich eine sozialpolitische Dimension. „Care“ schließt immer die anderen mit ein, ganz gleich, wer sie sind und wie viele. Das Sorgen für diese Vielen, für das Gemeinwohl also, war in der Zeit des Neuen Frankfurt in den 1920er Jahren ein zentrales Motiv der Stadtplanungspolitik.
Nach dem Ersten Weltkrieg und der Inflation litt die Bevölkerung große Not. Zahlreiche Männer waren im Krieg gestorben oder als Invaliden zurückgekehrt. Hunger, Krankheit und Mangelernährung waren keine Seltenheit. Die Wohnungsnot war groß. Die Stadt Frankfurt startete deshalb 1925 ein kommunales Wohnungsbauprogramm.Teil der Planungen waren auch Industriebauten, Schulen, Bibliotheken, Schwimmhallen und Sportstätten, Krankenhäuser, Kindergärten und ein Altenheim. All diese Vorhaben zeigen die Orientierung des Programms am Gemeinwohl und der Idee, Frankfurt zu einer sozialen St adt zu machen.
Zahlreiche Projekte im Wohnungs- und Siedlungsbau sowie in der Errichtung industrieller und öffentlicher Bauten sind erfolgreich umgesetzt worden. Noch heute sind viele von ihnen in Funktion, werden gebraucht, bewohnt und genutzt. Trotz des beispielgebenden Erfolges, sind auch zahlreiche Projekte aus Geldmangel nicht realisiert worden, darunter Kinderg ärten, Volkshäuser, Bibliotheken und Sportstätten. Ihnen gilt es, besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, da gerade in ihnen die Gemeinwohlorientierung einer demokratischen und sozialen Stadt sichtbar werden und ihr immer noch utopischer Gehalt einen kritischen Blick auch auf die aktuelle Situation lenkt.
Bildung
In der Weimarer Republik kommt es zu einer Neuorientierung der Bildung. Das zeigt sich an verschiedenen Stellen des Erziehungs- und Bildungssystems: Reformpädagogische Ansätze aus der Vorkriegszeit, die die kindlichen Bedürfnisse ins Zentrum von Bildung und Erziehung rücken, finden langsam Eingang in die Schulen. Im Fokus steht die Volksschule als Fundament guter Bildung für alle. Kindergärten und -krippen werden nicht mehr nur als Verwahranstalten begriffen, sondern als Orte der Bildung. Bis das neue Verständnis von Bildung flächendeckend umgesetzt wird, ist es jedoch noch ein langer Weg.
Frankfurt baut in den neuen Siedlungen neue Schulen. Drei von ihnen sind als moderne Freiflächen- oder Pavillonschulen angelegt, wie die Neue Volksschule Praunheim (Ebelfeldschule) und die Reformschule Bornheimer Hang (Charles -Hallgarten-Schule) sowie im Entwurf zur Volksschule Bonames.
Auch die Erwachsenenbildung, gleichermaßen für Männer und Frauen, erle bt einen regelrechten Boom. Bildung soll in allen sozialen Schichten Verbreitung finden und zur Demokratisierung von Wissen beitragen. Für die Umsetzung dieser Ideen spielen die Volkshäuser in den Siedlungen eine wichtige Rolle. Die Volksbildungsbewegung f ührt auch zum Betrieb von Volkshochschulen mit einem breit gefächerten Kursprogramm. In Frankfurt ist ihr Zentrum im Volksbildungsheim am Eschersheimer Turm untergebracht, heute das Kino CineStar.
Neben den städtischen Bildungsinitiativen engagieren sich auch Vereine und private Einrichtungen für die Volksbildung, wie die Frauen-Ausbildungsstätte Loheland in der Rhön oder die Frankfurter Dr. Arthur Pfungst-Stiftung. Auch das Programm des Bundes für Volksbildung, der aus dem 1890 gegründeten Ausschuss für Volksvorlesung hervorgeht, bringt lebenspraktische Themen unter und gestaltet ab 1925 ein Vortragsprogramm im Radio Frankfurt.
Gesundheit
Gesundheit und Bewegung sind nach dem Ersten Weltkrieg wichtige Themen. Dabei stellt die körperliche Ertüchtigung keine bloße Mode dar, sondern soll vor allem kriegsversehrte ehemalige Soldaten bei der Genesung an Leib und Seele unterstützen. Das erste große kommunale Bauvorhaben nach dem Krieg ist deshalb die Errichtung des Waldstadions. Auch das Sportfeld der Bertramswiese und drei Hallenschwimmbäder sollen der Gesundheit der Frankfurter Bürger:innen dienen.
Gesundheit und Hygiene spielen auch in den Bauprojekten des Neuen Frankfurt eine wichtige Rolle. „Licht, Luft, Sonne“ wird zum Motto und Programm: Balkone, Dachterrassen und großzügige Grünflächen sorgen für viel frische Luft und Helligkeit in den Wohnungen der neuen Siedlungen und sind Orte der Erholung.
Moderne diagnostische und therapeutische Verfahren verändern auch den Krankenhausbau, der in Frankfurt ab Mitte der 1920er Jahre einen Aufschwung erlebt: Einrichtungen der Frankfurter Universität werden erweitert oder neu gebaut: das Röntgeninstitut, die Kinderbeobachtungsstation, die Kinderhautklinik, ein Schwesternwohnheim, die städtische Desinfektionsanstalt und die Klinik für Gemüts- und Nervenkranke. Martin Elsaesser und Walter Körte entwerfen die Pläne für die baulichen Maßnahmen. Auch die in Frankfurt vorbildlich arbeitenden Einrichtungen der jüdischen Alten- und Krankenpflege werden modernisiert: Max Cetto entwirft eine Erweiterung des Gumpertz‘schen Siechenhauses am Röderberg. Das Grundkapital des Heimes geht auf eine Spende von Betty Gumpertz und der jüdischen Loge Bne Briss zurück. Auch die Zahnklinik Carolinum, 1890 von Hannah Louise von Rothschild gestiftet, bekommt moderne Räume. Willy Cahn erhält von der Flersheim - Sichel-Stiftung einen Auftrag für den Neubau ihrer Kinderklinik. Und Fritz Nathan verantwortet als Architekt den Umbau des Rothschild-Spitals am Röderbergweg, welches wiederum auf eine Stiftung von Mathilde und Carl von Rothschild zurückgeht.
Tuberkulose, Zahnerkrankungen, Infektionen der Atemwege, eine hohe Säuglingssterblichkeit sowie Geschlechtskrankheiten sind in den 1920er Jahren die gesundheitlichen Hauptprobleme. Bereits 1917 wird das Gesundheitsamt gegründet, um die städtischen Aktivitäten im Bereich Gesundheit zu bündeln. Da Gesundheit eng verknüpft ist mit Bildung, nutzte das Amt neben Ausstellungen auch das Radio zur Volksaufklärung. Dabei widmen sich die Sendungen auch der psychischen Gesundheit.
Für die Gesundheit der Kinder ist vor allem die Qualität der Nahrungsmittel und der Milch wichtig, die für Säuglingsnahrung und die Schulkinderspeisung eingesetzt werden. Darum kümmert sich das Nahrungsmittel-Untersuchungsamt.
Das Waldstadion und der Sport
Aufgrund der Auflagen des Versailler Vertrages zur Entmilitarisierung Deutschlands müssen die Militärschießstände im Frankfurter Stadtwald beseitigt werden. Dies bietet die Gelegenheit, den Kugelfangwall der ehemaligen Schießanlage in eine großzügige Sportstätte einzubinden.
Die Bauarbeiten beginnen 1921. Das Ensemble soll bis 1927 mehrere Sportanlagen umfassen: die Hauptkampfbahn mit der neoklassizistischen Festtribüne, eine Wintersporthalle, das Stadionbad mit Sprungturm, eine Radbahn und Tennisplätze. Max Bromme, Gartenbaudirektor der Stadt Frankfurt, entwirft die Gesamtanlage.
Das Waldstadion, eingebettet in die Landschaft des Stadtwalds, gilt bald als „schönste Sportstätte Deutschlands“. Das erste Großereignis in der neuen Anlage ist die 1. Internationale Arbeiterolympiade im Sommer 1925, zu der zwischen 80.000 und 100.000 Sportler:innen aus zahlreichen Ländern anreisen.
Soziale Fürsorge und das Neue Frankfurt
Schon vor dem ersten Weltkrieg beginnt Frankfurt, seine Wohlfahrtspflege auszubauen: Zum Armenamt kommen 1912 das Wohnungsamt und 1914 das Jugendamt hinzu. Ab 1928 übernimmt das Fürsorgeamt die gesamte Jugend- und Wohlfahrtspflege. 1916 startet die Stadt die kommunale Kinderschulspeisung, die Frankfurter Schulkinder mit warmen Mahlzeiten versorgt.
Nach Krieg und Inflation bleibt die soziale Lage schwierig. Besonders in der Altstadt leben viele arme Menschen auf engem Raum. Die Überbelegung der alten Häuser führt zu hygienischen und psychosozialen Problemen, vor allem für Kinder und Jugendliche. 1926 wird das Jugendheim Westend eröffnet, 1929/30 folgt das Haus der Jugend. Ein Montessori-Kinderhaus, das für die Kinder der Altstadt eine Tagesbetreuung anbieten soll, wird geplant, aber nicht umgesetzt.
Ein wichtiges Ziel ist, die soziale Fürsorgearbeit, ähnlich wie die Gesundheits - und Bildungsarbeit, in die neuen Siedlungen zu bringen. Die Volkshäuser sollen dabei eine tragende Rolle spielen. Realisiert wird jedoch nur das Gemeinschaftshaus in der Siedlung Bruchfeldstraße.
Haushalt und Wohnen
In den 1920er Jahren wird die Wohnung zu einem wichtigen Gestaltungsort der Industriemoderne. Großangelegte Wohnungsbauprogramme rücken die Organisation des alltäglichen Haushalts in den Mittelpunkt. Ein wichtiger Aspekt dieser Entwicklung ist die Idee der „Wohnung für das Existenzminimum“, die unter anderem durch die Verkleinerung der Grundrisse zur Senkung der Baukosten möglich werden soll. Allerdings trifft diese Verkleinerung mehrheitlich den einfachen Mittelstand und die proletarischen Schichten.
Auch die Technisierung und Versachlichung des Alltagslebens konzentrieren sich auf die Wohnung: Zweckmäßige Möbel, Gas- und Elektrogeräte sowie neue Materialien sollen Zeit sparen sowie Fortschritte für Gesundheit und Hygiene bringen. Der Haushalt wird dadurch für die Wirtschaft zu einem interessanten Marktsegment.
Ein zentrales Thema ist auch die Entlastung der Frauen. Während die meisten Arbeiterinnen schon im 19. Jahrhundert die Doppelbelastung durch Erwerbsarbeit und Familie zu tragen hatten, sind nach dem Ersten Weltkrieg auch Familien des Bürgertums auf das Einkommen der Frauen angewiesen. Doch nicht die gleichberechtigte Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern soll hier Abhilfe schaffen, sondern die Zentralisierung, Technisierung und Rationalisierung von Koch-, Wasch-, Bügel- und Putzarbeiten.
Schaumainkai 17
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