Frei sein! Von den Zwängen des bürgerlichen Lebens, vom Kapitalismus und der industriellen Gesellschaft. So sah der Traum vieler junger Menschen um 1900 aus – und sie schmiedeten Pläne für den Ausstieg. In Reformkolonien abseits der Städte begannen einige von ihnen ein alternatives Leben. Die Rückkehr zur Natur und das Leben in Frieden standen im Zentrum, aber auch Gesundheit, Körperkultur und Spiritualität: ein neues Lebensgefühl, das sich eine passende Ästhetik suchen sollte. Es war der Versuch, dem Leben eine natürlichere und gesündere Wendung zu geben, in einer Welt, die auf Egoismus und Luxus, auf Schein und Lüge aufbaute. So formulierte es Ida Hofmann, die Mitbegründerin der vegetarischen Siedlung Monte Verità am Lago Maggiore – ein Zufluchtsort für Revolutionär*innen und Outsider, die eine andere Form von Kunst und Gesellschaft erproben wollten. Auf den „Berg der Wahrheit“ kamen Käthe Kruse, Hermann Hesse, Rudolf von Laban, Mary Wigman und viele mehr.

In der Kunst und Gestaltung fanden die Gedanken der Lebensreform ihren sichtbaren Niederschlag, wie etwa im Jugendstil und Expressionismus, dem emanzipatorischen Reformkleid oder sozial motivierten Produktionsansätzen. Mit dem Siedlungsprojekt Loheland erprobten Frauen ab 1919 eine neue Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Für die Bewohnerinnen bot das Modell die Möglichkeit, sich als Frauen eine selbstständige Existenz zu verschaffen. Die Lebensreform-Bewegung fand ihren Ausdruck in vielen Bereichen der Alltagskultur: vegetarischer Ernährung, Naturheilkunde, Ablehnung der bürgerlichen Ehe und alter Geschlechterrollen, Freikörperkultur, Fitness und nicht zuletzt in den neuen Bild- und Kommunikationsmedien, mit denen all dies propagiert werden konnte.

PARA-MODERNE. Lebensreformen ab 1900 verfolgt die Ideale der frühen LebensreformBewegung weiter durch das 20. Jahrhundert. In acht Kapiteln werden Zeugnisse der unterschiedlichen Reformbewegungen aus den Bereichen Design, Lebenskultur und Kunst gezeigt. Der Blick auf die Wegbereiter*innen veranschaulicht frühe Denkmodelle, die sich in aktuellen Überlegungen zu Nachhaltigkeit, Gesundheit und Gemeinwohl wiederfinden. Die Ausstellung beleuchtet darüber hinaus Strömungen, deren esoterische Weltsicht sich zu Theorien von Überlegenheit bestimmter „Menschenrassen“ verstieg. Gemeinsam mit der Idealisierung des gesunden Körpers führte dies zu völkischen Heilslehren, die als wegbereitend für Eugenik, Antisemitismus und Rassismus gelten müssen. Wie kein anderer steht hier der Name des Architekten und Kulturtheoretikers Paul Schultze-Naumburg für eine ästhetische und politische Radikalisierung lebensreformerischer Ansätze, die in einen kulturell begründeten Rassismus mündeten.

Neben den Entwicklungen in Deutschland und Europa sind es vor allem die Verbindungslinien zur amerikanischen Counter Culture und der Flower-Power-Bewegung, die die Ausstellung zum ersten Mal umfassend präsentiert. Mit einer kulturellen Revolution, die sich gegen konservative Werte auflehnte, gegen den Vietnamkrieg und die Konsumgesellschaft, stehen die Rebell*innen der 1960er Jahre in enger Verbindung zu den Ideen der Lebensreformen um 1900.